Spieglein, Spieglein an der Wand

spiegel

Hani Yousuf ist eine pakistanische Journalistin, die ein paar Jahre in Berlin gelebt hat und dann nach Pakistan zurückgekehrt ist. Sie hat verschiedene Artikel über ihre Beobachtungen in Deutschland geschrieben und die empfehle ich hiermit wärmstens.

Seit vielen Jahren begegnet mir in Gesprächen  in Deutschland immer wieder die mehr oder weniger explizite Annahme, dass es bei uns mit der Gleichberechtigung von bzw. Sexismus gegen Frauen doch vergleichsweise gut aussähe. Also, im Vergleich mit weniger privilegierten, nicht-westlichen Ländern, gerade denen mit vor allem muslimischer Bevölkerung. Ich kann es nicht wirklich beurteilen, aber ich kenne ebenfalls seit Jahren Beschreibungen von z.B. arabischen Frauen, die das heftig bestreiten. Nicht, dass es irgendwo besonders gut aussähe, was das angeht, aber auf jeden Fall anders, und das heißt nicht schlechter.

In Deutschland haben wir uns ja an vieles notgedrungen gewöhnt, was weit entfernt von akzeptabel ist. Der #aufschrei hat Anfang des Jahres für eine Woche kurz gezeigt, wie der ganz normale sexistische Alltag in Deutschland aussieht. Und das ist damit eben nicht auch überall sonst die Regel. Nackte Frauen in unterwürfigen Posen an jeder Bushaltestelle? Kritik daran wird mit einem Argument kaltgestellt, dass schon die 68er gut drauf hatten: Prüde, oder was? Oder eben der Frage, ob Taliban und Burka etwa besser wären. Eine Gesellschaft, in der Frauen nicht als photogeshopte Objekte Werbung für irgendwelche Gegenstände aufhübschen, ist für mich erstrebenswerter als diese. Und das soll es außerhalb der ‚westlichen‘ Welt durchaus geben.

Jedenfalls habe ich mich über Hani Yousufs Artikel sehr gefreut, weil ihre Außen- und gleichzeitig Innensicht so gut zeigt, dass sich hier Sexismus, Rassismus und Eurozentrismus hervorragend ergänzen.

Aus „Mein Patriarchat ist besser als deins“, Tagesspiegel:

Anderthalb Jahre steckte ich in Berlin knietief in Sexismus und Rassismus – dann bin ich im August letzten Jahres in meine Heimatstadt Karachi zurückgezogen. Ja, ich nenne die Dinge beim Namen: Auch wenn das nicht zur populären Meinung passt, fühle ich mich als Journalistin in Pakistan sehr viel wohler als in Berlin.

Ein Grund, warum wir den sexistischen Alltag jeden Tag schlucken? Weil wir uns nicht vorstellen können, dass es auch anders ginge.

Aber immer, wenn ich anderen Freunden von meinen Erfahrungen erzählte, sagten sie – und auch ich bildete mir das ein –, dass so was ja immer und überall passiere. Nicht nur hier in Berlin. Aber es war nirgends auf der Welt so wie in Berlin.

In einem älteren Artikel, veröffentlich in der „Welt“, beschrieb Hani Yousuf, wie sie journalistischen Alltag in Berlin erlebte.

„Newsline“, Karachi, Pakistan:

In den monatlichen Redaktionssitzungen tranken wir würzigen Chai und verrissen das Konkurrenzblatt „Herald“. Den Vorsitz führten die Chefredakteurin und ihre drei Ressortleiterinnen, die das Magazin mitgegründet hatten. … Die Redaktionssitzungen fanden in dem Raum statt, den sich die Chefredakteurin mit ihren Ressortleiterinnen teilte.

„Die Welt“, Berlin:

Im ganzen Raum leuchten Computerbildschirme, während ein Mann nach dem anderen den Raum betritt, im Anzug ohne Schlips oder in einer Tweedjacke mit Ellbogenschonern, in der Hand die Kaffeetasse. Der auffälligste Unterschied ist der Mangel an Frauen. Das hat mich überrascht. Ich komme ja aus Talibanland, doch so stark wie hier in Deutschland ist es mir noch nie bewusst geworden, dass ich eine Frau bin.

Und:

Meine Patentante Susy aus Dreieich, wo meine Mutter aufgewachsen ist, war ein wenig pikiert, als ich über Sexismus in Deutschland sprach. „Immerhin sind unsere Kanzlerin und einige Kabinettsmitglieder Frauen“, sagte sie. „Ihr seid spät dran“, sagte ich. „Indien hatte Indira Gandhi schon in den 60er-Jahren, Pakistan Benazir Bhutto in den 80ern, Bangladesh Khaleda Zia in den 90ern. Will ich damit sagen, dass wir keine unterdrückten Frauen hätten, keine ernsten Probleme mit der Ungleichheit der Geschlechter? Natürlich nicht.

Alles aus „Wo sind denn hier die Frauen?„, Die Welt, 2011

Wie gesagt, es geht gar nicht darum so zu tun, als sei in Pakistan alles prima. Das schreibt Hani Yousuf auch selbst. Frappierend finde ich bloß den Spiegel, den wir vorgehalten bekommen, der sehr deutlich macht, wie dick die Propaganda-Schicht ist, die uns das klare Denken verkleistert.

Während sie in Deutschland war, war sie übrigens auch Mitglied von Pro Quote.

Bevor ich auf diese Frauen traf, war ich oft verärgert, dass deutsche Frauen nichts unternahmen gegen die Tatsache, dass sie in Medienunternehmen unterrepräsentiert waren, besonders am oberen Ende der Karriereleiter, und dass sie weiterlebten, in Selbstverleugnung, in dem Glauben, dass sie alles (erreicht) hätten.

In „Wie ich in Deutschland Feministin wurde“ beschreibt sie typische, eklige Situationen mit ‚aufgeklärten‘ westlichen Frauen und deren rassistischen Klischees:

„Denkst du wirklich, du bist progressiver als wir?“, hat meine österreichische Freundin mich gefragt. Ihre Ansichten empfand ich als beleidigend und sie machten mich traurig. Mit dieser Frage hat sie mich sofort zur „Anderen“ gemacht. Dazu hat sie den Fehler begangen, den viele Frauen aus entwickelten Ländern begehen: Sie übersehen, dass Gender noch immer ein großes Thema ist – auch in ihren eigenen, „entwickelten“ Gesellschaften.

Ich bin keine Pakistan-Kennerin und gebe gern zu, dass ich vieles von dem, was in den Artikeln steht, nicht beurteilen kann. Mich interessierte vor allem die Beschreibung ihrer Erlebnisse in Deutschland. Ich fand sie gut beobachtet und überzeugend aufgeschrieben. Not more, not less.

Macht Euch selbst ein Bild, lest die Artikel ganz und folgt ihr: twitter.com/haniyousuf

 

Bild: by rosmary, CC-Lizenz

Sächsische Justiz gegen Lothar König

gemeintsindwiralleHeute war der erste Prozesstag im Verfahren gegen Lothar König. Schön, dass darüber breit berichtet wurde, aber ein paar Sachen wollte ich hier nochmal zusammensammeln. Auf die Presseberichterstattung zu verlinken ist ja seit dem Leistungsschutzrecht leider für die meisten Presseerzeugnisse verboten (stimmt zum Glück nicht, siehe Kommentare), aber zum Glück hat die Soligruppe der Jungen Gemeinde Jena eine gute Übersicht. Überhaupt reicht eigentlich eine Weiterleitung nach dort. Die JG hat sowohl live getickert als auch schon einen Bericht vom ersten Prozeßtag. Worum es geht, steht in der Chronik der Ereignisse.

Einen weiteren Live-Ticker gab’s beim Neuen Deutschland. Sein Anwalt Johnny Eisenberg, von Metronaut auch als ‚Sturmgeschütz‚ bezeichnet, war heute optimistisch:

Ich glaube, dass Lothar König freizusprechen ist. Vielleicht nicht hier bei diesem Amtsgericht Dresden, aber da gibt es eine eindeutige Rechtssprechung des Verfassungsgerichts. (Video)

Spiegel Online:

Die sächsische Justiz hat bei diesem Verfahren einen schweren Stand. Zum einen hat das Amtsgericht Dresden bereits mit Tim H. einen ersten, mutmaßlichen Rädelsführer vom 19. Februar 2011 zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt – mit einer Begründung, die ihresgleichen sucht.

Zum anderen sitzt da nun ein Jugendseelsorger vor Gericht, der Zeit seines Lebens den Rechtsextremismus bekämpft, dessen Engagement von vielen als selbstlos bezeichnet wird. Ein Freispruch im Fall König würde die Verurteilung Tim H.s torpedieren. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse sprach im Zusammenhang mit dem Verhalten der Behörden bei der Anti-Nazi-Demo von „sächsischer Demokratie“.

Feine Sahne Fischfilet, selbst auch der antifaschistischen Aktivität verdächtig und deswegen vom Verfassungsschutz beobachtet, konnten nicht dabei sein und haben deswegen Grüße geschickt:

Sämtliche Berichte klingen, als ob die sächsische Justiz wie gewohnt nicht gut aussah. Ob denen sich das wie gewohnt völlig egal ist, wird sich noch zeigen. Die nächsten Prozesstermine sind der 24. April und der 13., 28.-30. Mai, jeweils um 9 Uhr im Amtsgericht Dresden.

http://vimeo.com/61833944

 

 

 

 

 

Niemand braucht die Spitzel des Verfassungsschutzes. Außer den Nazis.

Gestern gab es bei Report Mainz einen Beitrag über V-Leute des Verfassungsschutzes (VS), der gut zusammenfasst, warum sie ein Problem sind. Samt Zitat des Bundesinnenministers, der selbstverständlich möchte, dass alles so bleibt, wie es ist.

»Es ist unstreitig, dass so etwas notwendig ist, wenn wir nicht wirklich blind werden wollen als Staat und damit auch wehrlos. Wir brauchen V-Leute.« (Innenminister Friedrich bei Report Mainz)

 

Im Raum steht weiter die Frage, warum die Volksparteien am System des Verfassungsschutzes festhalten, obwohl alle Fakten dagegen sprechen:

  • 12 von 50 V-Leuten in der Nazi-Szene haben während ihrer Zeit beim VS Straftaten begangen: Nötigung, Körperverletzung, Aufruf zum Mord, Waffenhandel, Bombenbau, Sprengstoff und Brandanschläge
  • mindestens sechs wurden vom Verfassungsschutz vor Strafverfolgung gewarnt
  • 15 der 50 haben fünf- bis sechsstelliges Honorare bekommen, das höchste 180.000€
  • mindestens sechs waren im Umfeld des NSU unterwegs (und haben nichts verhindert)
  • der Verfassungsschutz zahlte die Anwälte eines V-Manns in Thüringen. Alle 35 Verfahren gegen ihn wurden eingestellt
  • mindestens einem V-Mann wurde eine Waffe gezahlt

(Alles Report Mainz, pdf)

http://www.youtube.com/watch?v=mJn3E_tN2HI

Vor der Kamera sagte der ehemalige Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Ridder:

Ich bin wirklich verwundert, dass im politischen Raum bisher nicht ganz anders auf eine solche Perversion eines V-Mann-Systems reagiert wird.

Petra Pau twitterte später allerdings genervt, dass ein Statement mit ihr von Report aufgezeichnet wurde, in dem sie die Abschaffung der V-Leute fordert und das dann aber nicht in den Beitrag aufgenommen wurde.

Andreas Förster schreibt heute in der Berliner Zeitung, dass im Umfeld des NSU sogar mindestens 24 Spitzel unterwegs gewesen seien. Und schlüsselt übersichtlich nach Decknamen und Behörden auf, wer wer war.

..sie spitzelten für das Bundesamt (BfV) und die Landesämter für Verfassungsschutz (LfV), für den Militärischen Abschirmdienst (MAD) und das Berliner Landeskriminalamt (LKA). Vor dem Beginn des Prozesses gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche NSU-Unterstützer in München stellt sich daher einmal mehr die Frage, warum Geheimdienste und Polizei dennoch nie auf die Spur des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ kamen.

Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, das beizubehalten.

 

Deswegen:

Demo gegen Nazi-Terror und Verfassungsschutz

Demo: Greift ein gegen Naziterror, staatlichen und alltäglichen Rassismus – Verfassungsschutz abschaffen!

Zum Auftakt des NSU-Prozesses gibt es nächste Woche, am Samstag den 13.4., eine Demo in München und ich hoffe, dass wir viele sein werden.

Neben dem Aufruf des Demo-Bündnisses rufen auch das Grundrechtekomitee, der Republikanische Anwältinnen- und Anwältevereins, die Liga für Menschenrechte, die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen und PRO ASYL zur Teilnahme auf.

Verfassungsschutz raus aus den Schulen!

bildung-geheimdienstViele Lehrer und Lehrerinnen, auch manche Schülerinnen und Schüler kennen es vielleicht schon: der Verfassungsschutz geht verstärkt auf Schulen zu und bietet Veranstaltungen an. Es ist nicht so einfach, das abzulehnen. Das Demokratische JugendFORUM Brandenburg (DJB) hat deswegen eine kleine Broschüre herausgegeben, die erklärt, warum es trotzdem besser ist, den Geheimdienst nicht im Unterricht zu haben:

In dieser Broschüre wollen wir die Probleme aufzeigen, die sich aus der Neuorientierung des Verfassungsschutzes für die politische Bildungsarbeit ergeben. Wir sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pädagogischer Einrichtungen, aus Verwaltungen oder Vereinsvorständen. Wir gehen in dieser Handreichung auf Fragen ein, die sich ganz praktisch in der Bildungsarbeit stellen, in der plötzlich ein Geheimdienst aktiv ist.

Darin geht es um so unterschiedliche Fragen wie

  • Wer oder was schützt unsere Verfassung und unsere Demokratie?
  • Wie gestalten wir Demokratie?
  • Wie gut kennt der Geheimdienst den Zustand unserer Demokratie?
  • Ist der Geheimdienst parteipolitisch unabhängig? Sind seine Informationen objektiv?

Und auch: Hat der Geheimdienst geeignete Referentinnen und Referenten zu den Themen Demokratie, Extremismus und Islam?

Referentinnen und Referenten müssen pädagogische Anforderungen erfüllen können. Der zentrale Standard in der politischen Bildung wurde 1976 im Beutelsbacher Konsens festgelegt. Sämtliche Träger und Fachleute politischer Bildungsarbeit einigten sich auf drei zentrale Grundsätze: Politische Bildung darf Lernende nicht indoktrinieren, muss existierende Kontroversen darstellen und Lernenden die Möglichkeit geben, sich eine eigene Meinung über das jeweilige Thema zu bilden. Inhalte sollen in pluralistischer Perspektive dargestellt werden und Standpunkte hinterfragbar sein. Die Herkunft der verwendeten Daten muss nachvollziehbar sein und Lernende dürfen nicht durch die Autorität der Lehrenden überwältigt werden.

Der Geheimdienst kann diesen Ansprüchen an Bildungsreferen- tinnen und Bildungsreferenten nicht gerecht werden.

Das wäre also ein guter inhaltlicher Grund, solche Veranstaltungen abzulehnen. Der wäre aber eigentlich gar nicht nötig, denn

Muss ich mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeiten?

Niemand ist verpflichtet, mit dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten. Jede Anfrage darf ohne Angabe von Gründen und vollständig abgelehnt werden.

Nebenbei:

Wussten Sie schon, …

… dass Neonazis nicht einfach nur „Quellen“ des Geheimdienstes Verfassungsschutz sind, …

… sondern auch in Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes als Expertinnen und Experten zu Themen wie „Linke Gewalt“ zu Wort kommen?

Der Chef des sogenannten Thüringer Heimatschutzes und Informant des Verfassungsschutzes, Tino Brandt, wird in einem Bildungsfilm des Thüringer Verfas- sungsschutz für Schulen in den Rang eines „Experten“ über „linke Gewalt“ gehoben und dazu interviewt.

Dass hinten auf der Broschüre Zitronenfalter erwähnt sind, finde ich charmant, hat aber nichts mit mir und meinem Beitrag beim letzten Kongress des CCC zu tun..

Die Broschüre kann per Post bei bog at djb-ev punkt de bestellt oder direkt als PDF runtergeladen werden (450kb).

 

Ein britischer Spitzel, der sich in New York für AktivistInnen aus Frankreich interessierte

small__6811792053Es gibt Sachen, bei denen ist es echt schwierig, Verschwörngstheorien auszuweichen.

Der britische verdeckte Ermittler Mark Kennedy hat nicht nur jahrelang die britische Klimaschutz- und die deutsche Anti-G8-Bewegung bespitzelt (und nebenbei auch Beziehungen mit Aktivistinnen angefangen).

In The Lede, einem Blog der New York Times, stand letzte Woche, dass er 2008 auch in New York war und dort an mindestens einem Treffen von AktivistInnen und AkademikerInnen teilgenommen hat. Zufällig waren bei diesem Treffen auch Julien Coupat und Yildune Levy. Die wurden dann im November desselben Jahres in Tarnac, Frankreich, mit Terror-Vorwurf festgenommen und lange in Untersuchungshaft gesteckt. Dabei ging es u.a. um Castor-Proteste. Das Verfahren soll dieses Jahr erst beginnen.

Das FBI hatte 2008 Video-Aufnahmen von allen gemacht, die zu dem Treffen gingen und diese Aufnahmen später auch der französischen Polizei übergeben. Und außerdem Alexander Galloway vernommen, Übersetzer des ‚Kommenden Aufstands‘, Lehrbeauftragter der New York University und Programmierer.

Von Mark Kennedys Anwesenheit in New York hatte Harry Halpin erzählt, Fellow des World Wide Web Consortium (W3C), der 2010 selbst vom FBI festgehalten und nach Julien Coupat befragt worden war. Mehr Details stehen bei Indymedia Linksunten.

 

Foto: uetz0815 via photopin CC-Lizenz

Prozess gegen Lothar König scheitert an sächsischer Justiz

Ohne Dich ist alles doof

Champagner.

Eigentlich hätte am Dienstag der Prozess wegen “schwerem, aufwieglerischem Landfriedensbruchs” (§125a StGB) gegen Lothar König, den Stadtjugendpfarrer von Jena, begonnen. Am Montag ist der Start des Prozesses an der Dämlichkeit der sächsischen Behörden gescheitert. Wenn es nicht so ernst wäre, wäre es zum Schreien komisch.

Was ist passiert? Kurz vor Prozessbeginn ist ein Stapel Material in den Prozessakten aufgetaucht, den die Verteidigung noch nie gesehen hatte. Wie kam der dahin? Warum war der vorher nicht da?

Dass Prozessakten nicht vollständig sind, ist nicht ungewöhnlich. Das ist nicht vorgesehen und immerhin haben wir ja einen Rechtsstaat und so, aber faktisch passieren trotzdem in deutschen Gerichten die bizarrsten Dinge, weil, guckt ja niemand so genau hin. Wo wir doch den Rechtsstaat…

Dass allerdings ausgerechnet in diesem Prozess mal eben ein

etwa 100 Blatt starkes ungeordnetes Konvolut von Lichtbildmappen, CD-Rom mit anklagerelevanten Videomaterial und polizeilichen Auswertungsmaterialien (JG Stadtmitte)

vom Himmel fällt, bestätigt alle Vorurteile über die sächsische Justiz. Es gibt eigentlich nur zwei mögliche Interpretationen: die StaatsanwältInnen plus Polizei sind sich sehr sicher, dass ihnen da niemand reinpfuscht. Oder haben den Bezug zu den letzten Resten demokratischer Rechtsstaatlichkeit vollständig verloren. (Jedesmal, wenn ich über die schreibe, frage ich mich, ob ich bei der nächsten Einreise festgenommen werden. Deswegen, liebe Zensoren: das sind Vermutungen, keine Behauptungen. Ok?)

Nun ist es aber so, dass die ganze Republik diesen Prozess beobachtet. Und Lothar König einen Anwalt hat, der in Berlin als Kettenhund des Politischen Prozesses bekannt ist: Johnny Eisenberg, der schon aus kleineren Anlässen größere Skandale fabriziert. Der hat dann kurz die Augenbrauen hochgezogen und das Gericht in Dresden hat den Prozess jetzt verschoben. Ich bin sehr gespannt, wie das weitergeht.

Noch ein bisschen zum Prozess an sich. Die FR fasst das so zusammen:

Ein Pfarrer aus Jena kämpft seit Jahren gegen den Einfluss von Neonazis. Jetzt muss er vor Gericht, weil er an einer Demonstration teilgenommen hat, die sich gegen den größten Aufmarsch von Neonazis in Europa richtete.

http://vimeo.com/60934455

Mehr über Lothar König:

http://vimeo.com/60830525

Er selbst dazu:

Seit der Wohnungsdurchsuchung im August 2011 ist mir eine ungeahnte Solidarisierung zuteilgeworden. Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet; aus Antifagruppen, Kirchen, Gewerkschaften, aus allen Parteien und allen Altersgruppen haben mir geschrieben und/oder für die Prozeßkosten gespendet. Das hat mir mein Engagement und das Durchhalten wesentlich erleichtert. Nur wenigen konnte ich bisher ein Dankeschön zurückgeben.

Ich will aber nicht verhehlen, daß die Vorbereitungen auf den anstehenden Prozeß zeitlich und kräftemäßig an den Rand der Belastbarkeit führen. Die Ungewißheit seines Ausganges und die drohende Vergeblichkeit aller Anstrengungen führen an die Grenzen, was ich gegenüber mir und anderen verantworten kann . Hinzu kommt der enorme finanzielle Aufwand.

Ein Scheitern ist immer möglich. Doch trotz aller Ohnmacht, trotz eigener Zweifel und Fragen , trotz drohender Sinnlosigkeit aller Bemühungen sage ich: „ . . . nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt. “ (Christa Wolf)

So ist die Verurteilung von Tim H. und die drohende von mir kein Scheitern von uns. Es ist das Scheitern einer Justiz, die antifaschistisches und demokrat- isches Engagement kriminalisiert.

Jena, im Februar 2013, Lothar König, Pfarrer

Wer spenden möchte, kann das hier machen: www.prozesskostenhilfe-lothar.de

Deutsche Software hilft bei der Überwachung von AktivistInnen weltweit

You only click twice: FinFishers's Global Proliferation

Wenn es für den Export von Waffen aus guten Gründen Beschränkungen und Kontrollen gibt, warum dann nicht für Software? Wenn Regierungen Software gegen die eigene Bevölkerung einsetzt, sie dann überwacht, festnimmt, foltert und ermordet, gibt es keinen Grund, den Verkauf nicht genauso zu reglementieren. Eigentlich.

Zur Praxis hat Reporter ohne Grenzen letzte Woche zum diesjährigen Welttag gegen Internetzensur den »Bericht über die „Feinde des Internets“« veröffentlich.

Zu den Feinden des Internets zählt der Bericht auch die IT-Sicherheitsfirmen GAMMA INTERNATIONAL (UK/Deutschland), TROVICOR (Deutschland), HACKING TEAM (Italien), AMESYS (Frankreich) und BLUE COAT (USA). Mit Produkten dieser Firmen spüren autoritäre Regime kritische Journalisten auf, nehmen sie fest und blockieren ihre Webseiten. Die Anbieter verkaufen ihre Software entweder selbst an solche Regierungen und nehmen Übergriffe damit in Kauf, oder sie haben es versäumt, den Export ihrer Software so zu kontrollieren, dass Missbrauch ausgeschlossen ist. (Reporter ohne Grenzen)

Einen Tag später erschien ein neuer Bericht von Citizen Lab: You Only Click Twice: FinFisher’s Global Proliferation. Es ist nicht einfach nachzuweisen, wer in welche Länder Überwachungssoftware verkauft. CitizenLab hat in 25 Ländern FinFisher-Server lokalisiert, die von Gamma International betrieben werden.

Server auf der ganzen Welt funktionieren als Kommando-Zentralen für den kommerziellen Staatstrojaner FinFisher/FinSpy. Das geht aus einem Bericht des Citizen Lab hervor, der 33 Server in 25 Staaten auflistet. Das verstärkt die Vermutung, dass diese deutsche Überwachungstechnologie auch in Staaten eingesetzt wird, die für Menschenrechtsverletzungen bekannt sind. (netzpolitik.org)

Ich hatte vor einem Monat schon über FinFisher geschrieben: Fin’s Fisher fischt frische Fishe

Citizen Lab nennt zwei Beispiele, in denen FinFisher gegen AktivistInnen eingesetzt wurde: gegen Oppositionelle in Äthiopien. Die Variante für Mobiltelephone wurde in Vietnam gefunden – beides wird im Bericht ausführlich beschrieben.

Die Firmen, die die Software verkaufen, gehen sind nicht erpicht auf Öffentlichkeit. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, wird darauf verwiesen, dass die Software nicht an Diktaturen verkauft werde und sowieso: „Software foltert keine Leute.“ Sowas hatten wir von den Erfindern der Atombombe auch schonmal gehört. (Auch dieser Link wird demnächst dem neuen Gesetz zum ‚Leistungsschutzrecht‘ zum Opfer fallen)

Eine Ausnahme gab es Ende Februar bei der RSA-Konferenz, wo es ein Podium mit dem amerikanischen Vertreter der italienischen Firma Hacking Team gab, die auch zu den von Reporter ohne Grenzen definierten ‚Feinden des Internets‘ gehört. Mit ihm diskutierten Dale Beauchamp (US Homeland Security), Jacob Appelbaum (Tor Project), Kurt Opsahl (EFF) und Claudio Guarnieri (Rapid7): The spy within: researchers, hackers spar over state-sponsored malware,  von Quinn Norton in The Verge. Darf Überwachungssoftware überhaupt eingesetzt werden? Gegen wen? Wer legt fest, wer die Terroristen sind? Beauchamp, der Vertreter der US-Sicherheitsbehörden, ließ nichts aus:

„Believe it or not, if [Hacking Team] doesn’t sell the tool, [its clients] are going to do what they’re doing. So let’s not attack the tool, let’s attack what they’re doing,“

Auch dazu Spitzelsoftware-Hersteller: „Des einen Terrorist ist des anderen Aktivist“ (SpOn). (Auch dieser Link wird demnächst dem neuen Gesetz zum ‚Leistungsschutzrecht‘ zum Opfer fallen)

Die Aufnahme dieser Veranstaltung würde ich SEHR gern sehen.

The Young Turks pointiert (leider sehr schnell gesprochen) über FinSpy:
‚Finspy‘ Hijacks Activist Computers – Are You Being Monitored?

Überwacht wird natürlich nicht nur mit Trojanern wie FinFisher. Auch Skype reicht dazu oft völlig aus. Aus Russland wurde gerade bekannt, dass die Sicherheitsbehörden seit Jahren über Skype dessen NutzerInnen überwachen. Skandalös, würde man denken. Frankreich, unumstritten der stabilere Rechtsstaat, prüft gerade, ob es gegen Skype juristisch vorgehen kann, weil Skype die Überwachungsmöglichkeiten nicht offiziell mitliefert.

Und schließlich scheint es einen neuen ‚Sport‘ zu geben, der darin besteht, andere heimlich über Kamera ihrer Laptops zu beobachten – und die Aufnahmen hinterher ins Netz zu stellen: Meet the men who spy on women through their webcams. Also: immer schön die Kamera zukleben, und das Mikrofon ausschalten!

 

Onlinetalk: Euphorie und Entsetzen

dradiowissenWer möchte, kann jetzt nachhören, was Jürgen Kuri, Philipp Banse, Max Winde und ich am Samstag eine Stunde im c’t-Onlinetalk bei DRadioWissen zu sagen hatten.

Als Stream oder zum Runterladen:

Netz-Ereignisse: Zwischen Euphorie und Entsetzen (mp3, 50mb)

Es ging ungefähr eine halbe Stunde um das neue Samsung-Smartphone, warum mich sowas langweilt, wen das interessiert und warum, auch darum, warum Technik-Schnickschnack im Rahmen von sexistischen Bühnenshows präsentiert wird, wen das interessiert und warum.

Danach haben wir uns über das Ende des Google Readers unterhalten und was das für RSS-Feeds bedeutet, wer die nutzt und warum und dann über (in Deutschland produzierte) Überwachungssoftware und die dafür fehlenden Exportkontrollen, und ein ganz klein bisschen über WLAN-Störerhaftung, also die Frage, ob es sinnvoll ist, dass alle, die ihre WLANs so einrichten, dass andere sie nutzen können, dafür haften, wenn Unbekannte die dann für Sachen nutzen, die nicht erlaubt sind – etwa File-Sharing.

Damsel in Distress – Das ‚Fräulein in Nöten‘ als sexistisches Grundmodell in Computerspielen

Nach zwei intensiven und daher blog-freien Workshop-Wochen, bei denen ich viel über digitale Sicherheit gelernt habe (z.B. wie sich Jitsi, die Open-Source-Alternative zu Skype, über Tor laufen lässt!) stolpere ich als erstes über ein Thema, dass ich sonst eher am Rande behandele: Computerspiele.

Einige erinnern sich vielleicht an den Super-Shitstorm, der sich letztes Jahr über Anita Sarkeesian ergoss, als sie ihr Crowdfunding-Projekt startete mit dem Ziel, Sexismus in Computerspielen zu analysieren. Dazu gibt es den sehr empfehlenswerten TED-Talk von ihr, weiter unten zu sehen.

Der erste Teil des Projekts ist gerade fertig geworden:

Damsel in Distress: Part 1 – Tropes vs Women in Video Games

Das erklärt wohl u.a., warum ich mich mit Computerspielen nie anfreunden konnte.

Mehr zum Thema bei tropesversuswomen.tumblr.com

 

Anita Sarkeesian at TEDxWomen 2012

 

 

Brauchen wir linke Zeitungen?

zeitungIn der neuen „ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis“ stehen ein paar Gedanken von mir zu linken Zeitungen. Dort können sie nicht, hier dafür aber umso lieber diskutiert und kommentiert werden.

Wo ist die linke Netzzeitung?

Brauchen wir linke Zeitungen? Klar brauchen wir die, würde ich gern antworten. Allerdings stecken in der Frage eigentlich zwei: brauchen wir linke Zeitungen, oder brauchen wir linke Zeitungen?

Linke, meinetwegen kritische, progressive, antiautoritäre Medien sind in den Zeiten des Neoliberalismus nötig, weil wir Orte brauchen, an denen wir ein intellektuelles Zuhause haben. Bei denen wir wissen, dass das Beschriebene durch eine kritische Brille betrachtet wird. Deren Sichtweise wir deswegen nicht teilen müssen, bei der wir aber zumindest davon ausgehen können, dass uns nicht wieder der hegemoniale Bär aufgebunden wird. Und diese kritische Perspektive ist in allen Bereichen der Medien nötig: bei den tagesaktuellen Berichten, bei Kommentaren, Analysen. Bei der Auswahl der Themen, der InterviewpartnerInnen, der KommentatorInnen, der Bilder.

Dazu brauche ich eine, gern zwei linke Tageszeitungen. Ohne Parteibindung, denn daran krankt aktuell die zersplitterte linke Presse: Die Frankfurter Rundschau wurde aus Gründen, die andere besser verstehen, von der SPD zugrunde gerichtet. Die taz ist grün, das Neue Deutschland (ND) ist LINKS. Klug wäre eine Zeitung mit den Kapazitäten, so umfangreich tagesaktuell zu berichten, dass keine zweite Zeitung nebenher nötig wäre. Das schaffen derzeit weder taz noch ND noch junge Welt. Solange aber jede davon so deutlich eine (parteipolitische) Richtung bedient, erklärt sich eigentlich von selbst, warum sie keine Aussichten hat, jemals übergreifend attraktiv zu sein.

Daneben ist eine Zeitung nötig, die aus den linken Nischen berichtet: über Arbeitskämpfe, Demonstrationen, Initiativen, Bewegungen. Die Bescheid weiß über das, was sich in Deutschland und anderswo jenseits des Horizonts der dpa tut. Und die auch den Mainstream beschreibt, erklärt und kritisiert. Täglich, wöchentlich, monatlich: eigentlich egal.

Auf meine Frage per Twitter schrieb Teresa Bücker (@fraeulein_tessa): »*wir* brauchen Medien, von denen Impulse für Weiterdenken, Veränderungen, Utopien ausgehen. Die den Status quo zu wenig finden.«

Von dieser Idealvorstellung entfernen wir uns immer weiter, Stichwort: Krise der Printmedien. Je weniger Redaktionen, je weniger (kritische) JournalistInnen, je weniger Geld für Recherche und Berichte, die keine umgeschriebenen Agenturmeldungen sind, desto mehr verblasst dieses Ideal, und damit komme ich zur Frage: brauchen wir linke Zeitungen?

Immer mehr Menschen beziehen einen großen Teil ihrer Informationen aus dem Netz. Das Netz ist schneller, vielfältiger, interaktiver, während zugleich immer mehr Printmedien aufgeben. Zudem haben viele Menschen weniger Geld für Zeitungen und über das Netz die Möglichkeit, günstiger an Informationen zu kommen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich an dieser Entwicklung etwas ändern wird.

Es stimmt, dass wir vieles, was am nächsten Tag in der Zeitung steht, schon am Tag zuvor im Netz erfahren. Vieles aber auch nicht: Im Netz finde ich vor allem meine Filterbubble, also Informationen, die den Themen ähnlich sind, für die ich mich ohnehin interessiere. (Siehe das Video von Eli Pariser auf www.ted.com.) Soziale Netzwerke sind häufig so programmiert, dass wir zuerst genau diese Dinge sehen. Das ist angesichts der Überforderung durch die schiere Masse online verfügbarer Informationen praktisch, verhindert aber, dass wir erfahren, was sich sonst noch tut. Es fehlt derzeit ein Ort im Netz, der die Funktion der Zeitung übernimmt, einen Überblick über Themen, relevante Diskussionen und Entwicklungen zu verschaffen. Gut geschrieben und gut recherchiert, von Leuten, die etwas von ihrem Thema verstehen.

ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 580 / 15.2.2013

Es fehlt alles mögliche. Weil 4000 Zeichen nicht viel Platz sind und weil es sowieso unmöglich ist, das Thema erschöpfend zu behandeln. Es fehlen: die Wochen- und Monatszeitungen – auch mit der Betrachtung des Online-Experiments von Der Freitag -, es fehlt die Rolle der Propaganda (der Gegenseite), es fehlt das quasi zwanghafte sich voneinander Abgrenzen deutscher Linker, woraufhin alle in ihren jeweiligen Nischen eingehen.

Auch eine gute Erklärung, warum wir linke Medien brauchen: Marcus Klöckner in Telepolis Journalismusforschung:“Ganz auf Linie mit den Eliten“

Zur finanziellen Seite der (linken) Printmedien hat übrigens Hannah Wettig auf derselben Seite 11 im ak was geschrieben: Leben und leben lassen.

 

Foto: mr-football / Flickr, BY-ND-Lizenz

 

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