Journalistische Maßstäbe

schreibmaschine800-Marvin Siefke_pixelio.deAm Samstagabend eskalierte nach einer Demo zur Unterstützung der Menschen in der Schule in der Ohlauer Straße eine Situation in der Nähe des Görlitzer Parks in Berlin-Kreuzberg. Davon gibt es ein Video, das bei YouTube (nur mit Anmeldung) bisher knapp 400.000 Mal gesehen wurde.

Zu sehen ist eine brutale Festnahme. Der Anlass ist nicht erkennbar. Anfangs gibt es kaum Publikum, aber es kommen immer mehr Menschen dazu und die Situation wirkt ziemlich unübersichtlich, für alle Anwesenden.

Zu dem Video gibt es im Text die Aufforderung, diese Dokumentation von Polizeigewalt zu verbreiten. Das ist offenbar so reichlich passiert, dass sich die Polizei genötigt sah, am Sonntag und am Montag Pressemitteilungen zu dem Vorfall zu veröffentlichen.

Entsprechend gibt es inzwischen diverse Berichte in den Medien. Und als ich die las, habe ich mich gefragt, wo die Autor_innen eigentlich ihre journalistischen Standards vergessen haben, die uns Blogger_innen regelmäßig unter die Nase gerieben werden. Sowohl Spiegel Online – im Panorama? -, als auch Berliner Zeitung und der Tagesspiegel beschreiben zwar die Perspektive der Polizei, haben aber keinerlei Information über die Sicht der anderen Seite der Auseinandersetzung. Der Berliner Zeitung könnte noch zugute gehalten werden, dass der Text als Kommentar veröffentlicht wurde. Konjunktiv wird eher spärlich eingesetzt: was die Polizei sagt, stimmt. Der Tagesspiegel zitiert immerhin mit ganzen fünf Worten die Macher_innen des Videos, aber dafür zusätzlich zum Polizei-Pressesprecher auch gleich noch die Landesbezirksvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Einseitig? Aber nicht doch!
(Falls es noch weitere entsprechende Berichte zu diesem Fall gibt: gern in die Kommentare)

Das ist nichts Neues. Eigentlich ist es der Regelfall: das habe ich beim G8-Gipfel als Teil des Presseteams der Proteste in Heiligendamm ausführlichst erlebt, es wurde bei den Protesten Anfang des Jahres in Hamburg anlässlich der angedrohten Flora-Räumung detailliert auseinandergedröselt und kritisiert und ist eigentlich nur selten anders: berichtet wird, was die Polizei-Pressestelle behauptet.

Was lernen diese Leute eigentlich auf den vielgepriesenen Journalist_innen-Schulen? Unter anderem doch wohl, dass der echte, der Qualitätsjournalismus sich u.a. deswegen von den Blogs und subjektivem „Bürgerjournalismus“ unterscheidet, weil immer verschiedene Seiten gehört werden, niemals nur eine Seite dargestellt wird.

Und warum gilt das nicht, wenn die Polizei involviert ist? Warum gilt das nicht, wenn in einer Auseinandersetzung offensichtlich viel Gewalt im Spiel ist und schließlich gegen drei Menschen „wegen gefährlicher Körperverletzung, versuchter Gefangenenbefreiung und schweren Landfriedensbruchs ermittelt“ wird? Das sind schließlich keine Lappalien, sondern Vorwürfe, die möglicherweise mit Gefängnisstrafen enden. Und im übrigen die Statistiken über linke Gewalt füllen.

Natürlich sind diejenigen Beteiligten, die nicht bei der Polizei sind, nicht so einfach zu finden – gerade nicht bei solchen Vorwürfen und wenn sie möglicherweise traumatisiert sind nach der Prügelei. Vermutlich haben sie keine Pressestelle und verschicken nicht am nächsten Tag eine Pressemitteilung.

Aber bitte schön: das ist in Berlin-Kreuzberg kein Einzelfall. In Berlin wie in anderen Städten auch gibt es einen Ermittlungsausschuss, der sich seit Jahrzehnten um die rechtliche Betreuung von Menschen kümmert, die mit der Polizei aneinandergeraten. Die Nummer ist kein Geheimnis. Zu linksextrem, unglaubwürdig? (Auch schon gelesen). Aber die Polizei lügt nie, oder wie? Auch die politischen Kampagnen, um die herum solche Fälle häufig geschehen, sind in der Regel auffindbar und ansprechbar. Vielleicht nicht so komfortabel wie die Polizei, aber das kann ja wohl kein Grund sein, dann eben nur die eine Seite darzustellen. Jedenfalls nicht für Leute, die sich für Journalist_innen halten. Solche Berichte sind ein Grund, warum das Beharren, richtiger Journalismus sei wichtig und unersetzlich, zuweilen nicht besonders ernst genommen wird.

Wann fangen die Journalist_innenschulen an, ihren Auszubildenden beizubringen, wo und wie zu politischen und sozialen Bewegungen recherchiert wird und dass es da häufig Menschen gibt, die durchaus bereit sind, ihre Sicht der Dinge darzustellen? Das ist keine Zauberei.

Bild: Marvin Siefke  / pixelio.de

Spieglein, Spieglein an der Wand

spiegel

Hani Yousuf ist eine pakistanische Journalistin, die ein paar Jahre in Berlin gelebt hat und dann nach Pakistan zurückgekehrt ist. Sie hat verschiedene Artikel über ihre Beobachtungen in Deutschland geschrieben und die empfehle ich hiermit wärmstens.

Seit vielen Jahren begegnet mir in Gesprächen  in Deutschland immer wieder die mehr oder weniger explizite Annahme, dass es bei uns mit der Gleichberechtigung von bzw. Sexismus gegen Frauen doch vergleichsweise gut aussähe. Also, im Vergleich mit weniger privilegierten, nicht-westlichen Ländern, gerade denen mit vor allem muslimischer Bevölkerung. Ich kann es nicht wirklich beurteilen, aber ich kenne ebenfalls seit Jahren Beschreibungen von z.B. arabischen Frauen, die das heftig bestreiten. Nicht, dass es irgendwo besonders gut aussähe, was das angeht, aber auf jeden Fall anders, und das heißt nicht schlechter.

In Deutschland haben wir uns ja an vieles notgedrungen gewöhnt, was weit entfernt von akzeptabel ist. Der #aufschrei hat Anfang des Jahres für eine Woche kurz gezeigt, wie der ganz normale sexistische Alltag in Deutschland aussieht. Und das ist damit eben nicht auch überall sonst die Regel. Nackte Frauen in unterwürfigen Posen an jeder Bushaltestelle? Kritik daran wird mit einem Argument kaltgestellt, dass schon die 68er gut drauf hatten: Prüde, oder was? Oder eben der Frage, ob Taliban und Burka etwa besser wären. Eine Gesellschaft, in der Frauen nicht als photogeshopte Objekte Werbung für irgendwelche Gegenstände aufhübschen, ist für mich erstrebenswerter als diese. Und das soll es außerhalb der ‚westlichen‘ Welt durchaus geben.

Jedenfalls habe ich mich über Hani Yousufs Artikel sehr gefreut, weil ihre Außen- und gleichzeitig Innensicht so gut zeigt, dass sich hier Sexismus, Rassismus und Eurozentrismus hervorragend ergänzen.

Aus „Mein Patriarchat ist besser als deins“, Tagesspiegel:

Anderthalb Jahre steckte ich in Berlin knietief in Sexismus und Rassismus – dann bin ich im August letzten Jahres in meine Heimatstadt Karachi zurückgezogen. Ja, ich nenne die Dinge beim Namen: Auch wenn das nicht zur populären Meinung passt, fühle ich mich als Journalistin in Pakistan sehr viel wohler als in Berlin.

Ein Grund, warum wir den sexistischen Alltag jeden Tag schlucken? Weil wir uns nicht vorstellen können, dass es auch anders ginge.

Aber immer, wenn ich anderen Freunden von meinen Erfahrungen erzählte, sagten sie – und auch ich bildete mir das ein –, dass so was ja immer und überall passiere. Nicht nur hier in Berlin. Aber es war nirgends auf der Welt so wie in Berlin.

In einem älteren Artikel, veröffentlich in der „Welt“, beschrieb Hani Yousuf, wie sie journalistischen Alltag in Berlin erlebte.

„Newsline“, Karachi, Pakistan:

In den monatlichen Redaktionssitzungen tranken wir würzigen Chai und verrissen das Konkurrenzblatt „Herald“. Den Vorsitz führten die Chefredakteurin und ihre drei Ressortleiterinnen, die das Magazin mitgegründet hatten. … Die Redaktionssitzungen fanden in dem Raum statt, den sich die Chefredakteurin mit ihren Ressortleiterinnen teilte.

„Die Welt“, Berlin:

Im ganzen Raum leuchten Computerbildschirme, während ein Mann nach dem anderen den Raum betritt, im Anzug ohne Schlips oder in einer Tweedjacke mit Ellbogenschonern, in der Hand die Kaffeetasse. Der auffälligste Unterschied ist der Mangel an Frauen. Das hat mich überrascht. Ich komme ja aus Talibanland, doch so stark wie hier in Deutschland ist es mir noch nie bewusst geworden, dass ich eine Frau bin.

Und:

Meine Patentante Susy aus Dreieich, wo meine Mutter aufgewachsen ist, war ein wenig pikiert, als ich über Sexismus in Deutschland sprach. „Immerhin sind unsere Kanzlerin und einige Kabinettsmitglieder Frauen“, sagte sie. „Ihr seid spät dran“, sagte ich. „Indien hatte Indira Gandhi schon in den 60er-Jahren, Pakistan Benazir Bhutto in den 80ern, Bangladesh Khaleda Zia in den 90ern. Will ich damit sagen, dass wir keine unterdrückten Frauen hätten, keine ernsten Probleme mit der Ungleichheit der Geschlechter? Natürlich nicht.

Alles aus „Wo sind denn hier die Frauen?„, Die Welt, 2011

Wie gesagt, es geht gar nicht darum so zu tun, als sei in Pakistan alles prima. Das schreibt Hani Yousuf auch selbst. Frappierend finde ich bloß den Spiegel, den wir vorgehalten bekommen, der sehr deutlich macht, wie dick die Propaganda-Schicht ist, die uns das klare Denken verkleistert.

Während sie in Deutschland war, war sie übrigens auch Mitglied von Pro Quote.

Bevor ich auf diese Frauen traf, war ich oft verärgert, dass deutsche Frauen nichts unternahmen gegen die Tatsache, dass sie in Medienunternehmen unterrepräsentiert waren, besonders am oberen Ende der Karriereleiter, und dass sie weiterlebten, in Selbstverleugnung, in dem Glauben, dass sie alles (erreicht) hätten.

In „Wie ich in Deutschland Feministin wurde“ beschreibt sie typische, eklige Situationen mit ‚aufgeklärten‘ westlichen Frauen und deren rassistischen Klischees:

„Denkst du wirklich, du bist progressiver als wir?“, hat meine österreichische Freundin mich gefragt. Ihre Ansichten empfand ich als beleidigend und sie machten mich traurig. Mit dieser Frage hat sie mich sofort zur „Anderen“ gemacht. Dazu hat sie den Fehler begangen, den viele Frauen aus entwickelten Ländern begehen: Sie übersehen, dass Gender noch immer ein großes Thema ist – auch in ihren eigenen, „entwickelten“ Gesellschaften.

Ich bin keine Pakistan-Kennerin und gebe gern zu, dass ich vieles von dem, was in den Artikeln steht, nicht beurteilen kann. Mich interessierte vor allem die Beschreibung ihrer Erlebnisse in Deutschland. Ich fand sie gut beobachtet und überzeugend aufgeschrieben. Not more, not less.

Macht Euch selbst ein Bild, lest die Artikel ganz und folgt ihr: twitter.com/haniyousuf

 

Bild: by rosmary, CC-Lizenz

Autistici in Berlin – 27.1. um 20 Uhr in der c-base

ai-book-cover-webNächsten Sonntag, dem 27.1. gibt es eine besondere Veranstaltung. Autistici/Inventati stellen um 20 Uhr in der c-base ihr Buch +Kaos. 10 anni di hacking e mediattivismo (+Kaos. 10 Jahre Hacken und Medienaktivismus) vor.

Ich habe das Buch hier schon beworben, als es letzen Sommer erschien. Autistici/Inventati ist das italienische Technik-Kollektiv, das u.a. noblogs.org hostet, also die Blog-Plattform, auf der auch annalist läuft.

Im Buch wird die Geschichte des italienischen Hacktivismus erzählt, die Verbindung zu Indymedia, zum G8-Gipfel in Genua 2001, es geht um die jählichen Hack-Meetings und warum es nötig ist, eigene Technik-Infrastrukturen für E-Mail, Chat, Websites, Mailinglisten und und und zu haben, die nicht käuflich sind. Und wie sich das alles über 10 Jahre entwickelt hat, ohne Chefs und ohne Bezahlung.

Trotzdem, eigentlich gerade deswegen, kostet das alles natürlich viel Geld: bitte spendet für Autistici und damit noblogs.org und damit annalist!

Leider gibt es +kaos nur auf italienisch, es wird aber gerade ins Englische übersetzt und ein englisches Probe-Kapitel wird es nächsten Sonntag auch in der c-base geben. (Die Veranstaltungssprachen sind englisch und deutsch.)

LKA: Mietenproteste sind linksextremistisch

Wir haben gestern bei Kotti & Co. Silvester gefeiert, was sehr nett war und nicht annähernd so schrecklich, wie ich mir das am Kottbusser Tor vorgestellt hatte. Das Protestcamp gegen die hohen Mieten steht immer noch und ist inzwischen zu einer gemütlichen Hütte geworden.

Zwischendurch habe ich diese Geschichte gehört:

Ende Oktober fanden bei Kotti & Co. Aktionstage statt:

Im Protestcamp und bei den UnterstützerInnen aus allen Stadtteilen macht sich der Eindruck breit, dass die PolitikerInnen in einer Parallelwelt leben, in der die soziale Realität vieler Mieterinnen und Mieter nicht vorkommt. Wir haben deshalb beschlossen, unsere Realität dorthin zu tragen, wo über uns entschieden wird.

Am zweiten Tag gingen etwa 20 Frauen zur Senatsverwaltung für Soziales, gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen in einem Haus in der Oranienstrasse 106 und trommelten auf Kochtöpfen. Warum?

„Unser Anliegen ist es ja, die Verdrängung durch die Jobcenter zu stoppen und beide Verwaltungen haben damit zu tun. .. Da diese unsere Sorgen die Verantwortlichen nicht zu interessieren scheinen, oder sie nichts davon wissen, sind wir vor die Senatsverwaltung für Soziales gezogen und haben dort mit den bewährten Kochtöpfen auf uns aufmerksam gemacht. „

Soweit so normal für Berlin (Kreuzberg). Die Senatsverwaltung war nicht amüsiert. Dann kam die Polizei, laut Bericht von Kotti & Co. gerufen von einem Passanten, und war der Meinung, es handele sich nicht um eine spontane Versammlung. (Spontane Demonstrationen sind erlaubt, nicht spontane Demonstrationen müssen angemeldet werden.)

Die Polizei brauchte eine Verantwortliche, die es natürlich nicht gab. Um das Ganze glimpflich über die Bühne zu bringen, erklärte sich Taina Gärtner, Bezirksverordnete der BVV Friedrichshain-Kreuzberg, bereit.

Und bekam kurz darauf eine Vorladung vom LKA Berlin, konkret von Staatsschutz. (Als ich mich heute am Telefon mit jemandem von Kotti & Co. unterhielt, der bei dem Verhör dabei war, brach an dieser Stelle das Telefonat für ein paar Sekunden ab. War nach kurzer Stille aber wieder da).

Das Gespräch fand in einem Büro statt, von dem ich gern Fotos gesehen hätte. Die beschreibenden Worte waren: „Fast wie in The Wire, verbeulte Aktenschränke, ein winziges Fenster, furchtbar!“.

Und was hat also der Polizeiliche Staatsschutz mit 20 auf dem Gehweg stehenden Frauen zur tun? Das wurde im Verhör erklärt:

Es gibt bestimmte Themen, die für den Staatsschutz, Abteilung Linksextremismus, als relevant gelten. Dazu gehören Asyl & Flucht, und eben Mieten und Gentrifizierung.

Nochmal zum Mitschreiben: (Beschäftigung mit) Gentrifizierung = Linksextremismus.

Offenbar haben aus diesem Grund auch Beamte des LKA mehrere Lärm-Demos von Kotti & Co. observiert – das wurde den OrganisatorInnen von den ja auch immer anwesenden Mitgliedern der ‚Anti-Konflikt-Teams‘ mitgeteilt.

Das Verfahren gegen Taina Gärtner wurde mittlerweile wieder eingestellt.

 

 

Berlin-Prenzlauer Berg 1990

Es wirkt ein bisschen wie von vor dem Krieg, ist aber erst 20 Jahre her. Ein Film für alle, die über Veränderung in Prenzlauer Berg reden.

http://vimeo.com/47753945

BERLIN-PRENZLAUER BERG – BEGEGNUNGEN ZWISCHEN DEM 1.MAI UND DEM 1. JULI 1990
Petra Tschörtner DDR 1990 75’
liefert Bilder aus dem Leben der Kiez-Bewohner in den letzten Monaten vor der Währungsunion. „We need revolution“ singt „Herbst in Peking“ aus dem Prenzlauer Berg in den Trümmern der Mauer am Rande ihres Stadtbezirks. Dabei ist im Mai ’90 schon fast alles gelaufen. Im „Prater“ schwooft Knatter-Karl mit seiner Freundin. Frieda und Gerda im „Hackepeter“ sind erschüttert; denn gleich nach dem Fall der Mauer wurde im Tierpark ein Papagei gestohlen. Die Polizei jagt bewaffnete Männer, während Näherinnen erklären, warum die Vietnamesen zuerst entlassen werden. Ein einsamer Gast aus dem „Wiener Cafe“ singt zum Abschied das Lied von der Heimat, während die rumänische Combo zum Balkan-Express zurückeilt. Die Hausbesetzer träumen von Anarchie und Frau Ziervogel, Inhaberin von Berlins berühmtester Würstchenbude, segnet das erste Westgeld. Der Tag der Währungsunion ist da. Filipp Moritz besetzt den Prenzlauer Berg.

Gefunden beim Kraftfuttermischwerk, danke!

 

Protest gegen polizeiliche DNA-Speicherung

Aus der Rubrik: wenn sich Menschen Mühe machen, gute Presseerklärungen zu schreiben, muss ich nicht dran rumfrickeln:

Protest gegen polizeiliche DNA-Speicherung
Sicherheitsbehörden überschreiten rechtliche Grenzen

Ein Jahr nach dem Startschuss der Kampagne „DNA-Sammelwut stoppen!“ macht das Gen-ethische Netzwerk am Tag des Grundgesetzes, dem 23. Mai, erneut auf die problematische Expansion polizeilicher DNA-Datensammlungen und die Übertretung rechtlicher Grenzen durch die Sicherheitsbehörden bei der biologischen Vorratsdatenspeicherung aufmerksam.

„Wir haben es heute mit einer enormen Expansion biologischer Vorratsdatenspeicherung zu tun“, so Alexander Schwerin vom Gen-ethischen Netzwerk. Diese werde leider in der Öffent­lichkeit viel zu wenig thematisiert – ein Grund, warum Staatsanwaltschaften und Polizeidienst­stellen auch „regelmäßig relativ dreist jenseits rechtlicher Grenzen operieren“.

Zum Startschuss der Kampagne DNA Sammelwut stoppen hatte das GeN im letzten Jahr am 23. Mai 2011 einen Offenen Brief an die Justizministerin übergeben, der von etlichen Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen unterzeichnet wurden war.

In diesem Jahr wird das GeN die inzwischen gesammelten individuellen Unterschriften unter den Offenen Brief in einer Protestaktion vor dem Bundesjustizministerium in Berlin verstreuen. Damit protestiert die Organisation dagegen, dass die sonst in Datenschutzfragen engagierte Justizministerin bisher keinerlei Schritte gegen die biologische Vorratsdatenspeicherung unternommen hat. Außerdem werden die Unterschriften auch formal als Liste an das Ministerium übergeben.

Mit von der Partie ist wie immer Willi Watte, ein überdimensioniertes Wattestäbchen, das die Kampagne als Maskottchen von Anfang an begleitet.

Ort: Bundesministerium der Justiz, Mohrenstr. 37, Berlin
Zeit: 13 Uhr

Zum Jahrestag der Kampagne veröffentlicht das GeN außerdem Fälle, in denen die Sicherheitsbehörden rechtlich gesetzte Grenzen gezielt überschritten haben. Die Beispiele zeigen erheblichen Hand­lungsbedarf bei der Kontrolle und rechtlichen Regelung von DNA-Sammlung und -Speicherung:

  1. Bei dem bundesweit bisher zweitgrößten Massengentest von 2009 bis 2010 in Gütersloh wurden über 11.000 DNA-Proben von einer nicht genauer definierten männlichen Bevölkerung genommen. Nur 27 Personen verweigerten sich dem offiziell freiwilligen Test. Dennoch galten sie von nun an als Tatverdächtige. Bei zehn von ihnen ordnete das Amtsgericht ohne weiteren Tatverdacht eine Zwangsentnahme des Speichels an. Schon die enorme Menge der gespeicherten Personen ohne genauere Vorgabe von Kriterien widerspricht der rechtlich vorgegebenen Verhältnismäßigkeit. Insbesondere aber die Tatsache, dass Personen verdächtigt wurden, die lediglich ihr Recht auf Datenschutz wahrnahmen, sprengt den rechtstaatlichen Rahmen. Dies sah das Landgericht Bielefeld auch so und erklärte die Zwangsmaßnahmen nach dem Widerspruch eines Betroffenen für rechtswidrig.
  2. Bei einem Einbruch in ein Büro der Stadtverwaltung in Erfurt im Jahr 2011, bei dem lediglich eine Sparbüchse mit 15 Euro entwendet wurde, forderte die Kripo alle Büroangestellten dazu auf, DNA-Speichelproben abzugeben. Sie drohte auch nachträglich noch telefonisch mit richterlichen Zwangsanordnungen, sollten einzelne die Teilnahme verweigern. Die Polizei begründete die Speichelproben mit einem Ausschlussverfahren, um so auf die DNA eines oder einer Tatverdächtigen zu schließen. Ein solches Verfahren ist vom Gesetz zur DNA-Datenspeicherung aber in keiner Weise gedeckt – DNA-Proben sind entweder bei Beschuldigten einer erheblichen Straftat rechtens – oder es muss bei einer DNA-Reihenuntersuchungen ein Kapitalverbrechen vorliegen Zudem deklarierte die Kripo diese Verfahren erst im Laufe der Kommunikation mit den Angestellten als „freiwillig“, informierte sie aber nicht von Anfang an über ihr Recht, sich gegen die Speichelprobe zu entscheiden. Einige Betroffene zeigten dennoch Zivilcourage und widersetzten sich dem Test.

Kontakte zu Betroffenen und weitere Informationen stellt das Gen-ethische Netzwerk gerne zur Verfügung.

Das GeN ruft Betroffene polizeilicher DNA-Sammelwut dazu auf, sich gegen solche übergriffigen Maßnahmen zur Wehr zu setzen und die bürgerrechtlich dazu aktiven Organisationen wie das Gen-ethische Netzwerk in Berlin oder Institutionen wie die Datenschutzbeauftragten der Länder darüber zu informieren.

Weitere Informationen

www.fingerwegvonmeinerDNA.de

Kontakt

Uta Wagenmann: 01525 3166698

 

Frauen und Kinder zuerst

Letzte Woche ist ein Kinderschänder festgenommen worden. Auf dem Klo einer Grundschule im Wedding (Berlin) war ein Mädchen Opfer einer sexuellen Gewalttat geworden. Das weckt Ängste. Erst wurde die Tat bekannt, kurz darauf Details, einen Tag und viel Aufregung später wurde bekanntgegeben, dass der Täter festgenommen worden sei.

Beim Lesen der Artikel dazu fallen ein paar Sachen auf.

Die Fahnder „waren durch die Auswertung von Handydaten einer Mobilfunkzelle in der Nähe der Schule auf den Mann gekommen„, schreibt die Berliner Zeitung dezent. Funkzellenabfrage? Vorratsdaten? Es bleibt ein bisschen unklar und fällt im Text auch kaum auf. Die Morgenpost ist deutlicher:

Handydaten bringen Polizei auf die Spur des Tatverdächtigen

… Auf die Spur des Verdächtigen kamen die Ermittler durch eine Funkzellenüberwachung. Dabei stellten die Beamten fest, dass das Handy des Verdächtigen während der Tatzeit in der Funkzelle des Tatorts nahe der Humboldthain-Grundschule an der Grenzstraße aktiv war. …

Kaum wer wird sich trauen, die Polizei für die erfolgreiche Anwendung der Funkzellenabfrage zu kritisieren, wenn es um sexuelle Gewalt gegen kleine Mädchen geht. Und damit haben wir es mit einem beliebten Muster beim Abbau von Grund- und Bürgerrechten zu tun. Wenn es um den Schutz von Frauen und Kindern geht, geht mehr als sonst. Wir erinnern uns an das schon fast vergessene letzte Horrorszenario vor dem Terrorismus, die Organisierte Kriminalität. Da mussten wehrlose Opfer des Frauenhandels geschützt werden. Oder die Bundeswehr-Einsätze am Hindukusch: die armen Frauen in Afghanistan. Wenn der Beschützer-Instinkt ins Spiel kommt, ist einfach viel mehr möglich.

Vor einem Jahr wurde zum ersten Mal die Anwendung der Funkzellenabfrage öffentlich diskutiert und es war ein ordentlicher Skandal. Betroffen waren halb Dresden, außerdem AnwältInnen, JournalistInnen und sonstige GeheimnisträgerInnen. Alle Medien berichteten. Als es in Berlin um Auto-Brandstifter ging, hielt die öffentliche Aufregung bis zur nächsten Innenausschuss-Sitzung, aber schon die Ergebnisse interessierten kaum noch wen.

Mit dem aktuellen Fall ist die Anwendung akzeptiert, kaum wer kann sich dazu kritische Nachfragen erlauben. Politiker, die an ihrer Karriere hängen, schon gar nicht.

Dabei wäre schon interessant zu erfahren, warum ein Vorfall, der am 1. März passiert, vier Wochen später in die Medien kommt und es natürlich zu einem ziemlichen Aufruhr kommt. Effekt: das Mädchen, das gerade wieder anfing in die Schule zu gehen, bleibt wieder zuhause, um den Fernsehkameras vor der Schule zu entgehen. Weiterer Effekt: eine aufgeregte berlin-weite Diskussion über Sicherheit an Grundschulen.

Der Missbrauch in der Grundschule im sozial schwachen Stadtteil Wedding war erst am Donnerstag bekannt geworden. Bis dahin hatten Polizei und Staatsanwaltschaft aus ermittlungstaktischen Gründen geschwiegen. (KStA: Handy-Daten überführten Sextäter)

Ach so? Und was wären das für „ermittlungstaktische Gründe“?

Gut gefallen hat mir die Reaktion des Landeselternausschusses (LEA): die haben nämlich auf die Frage, ob nicht vielleicht überall Videokameras an den Schulen installiert werden sollten, besonnen reagiert:

Verschärfte Sicherheitsmaßnahmen seien aber auch problematisch, so Samani. „Auf der anderen Seite ist es auch nicht so schön für Kinder, wenn sie jeden Morgen in einen Hochsicherheitstrakt gehen.“ Das Geld solle lieber in Kurse investiert werden, in denen die Schüler lernten, wie sie sich in bedrohlichen Situationen verhalten und wie sie Hilfe holen könnten. Auf diese Weise könnten sich die Kinder auch auf dem Weg zur Schule besser selbst schützen. (KStA)

An der Grundschule meiner Kinder gab es auch Eltern, die verschlossene Tore und, mal wieder, Videokameras wollten. Gleichzeitig ist bekannt, dass die Tore immer offen stehen, weil die Schule kein Geld für die Reparaturen der kaputten Schlösser und keine LehrerInnen für die nötige zusätzliche Aufsicht hat.

Der Bezirk Mitte finanziert alle Sicherungsmaßnahmen. Dazu gehören laut Bezirksbürgermeister Christian Hanke (SPD) neue Schließanlagen sowie weitere „Investitionen zur Gefahrenabwehr“, die von der Schule inzwischen beantragt wurden. Hanke: „In einem solchen Fall schauen wir nicht aufs Geld.“ (Tagesspiegel)

Interessant auf jeden Fall. Abgesehen davon, ob das nun tatsächlich sinnvoll ist – und da neige ich eher zur Meinung des LEA – wüsste ich echt gern, ob das für alle Grundschulen gilt? Oder erst ‚hinterher‘?

Welchen Zweck Videokameras haben, erschließt sich mir jedenfalls auch hier nicht. Wenn deren Bilder ausgewertet sind, ist die Tat ja längst geschehen. Im Weddinger Fall hätten sie überhaupt nicht geholfen: da war der Täter sogar von Lehrern gesehen worden. Gelöst wurde das Ganze so:

Konstantinos M. ist der Polizei als Straftäter bekannt. Allerdings nicht wegen Vergewaltigung und Missbrauchs. Gegen ihn sei wegen exhibitionistischer Handlungen ermittelt worden. Das Verfahren gegen den damals noch nicht Volljährigen sei aber eingestellt worden, sagte ein Sprecher der Polizei. In der zentralen Datenbank des Bundeskriminalamtes als Sexualstraftäter sei er nicht registriert.

Die Ermittler des Landeskriminalamtes waren auf den Mann aufmerksam geworden, als sie die Handydaten einer Mobilfunkzelle, die sich in der Nähe der Schule befindet, vom Tattag auswerteten. Der Tatverdacht erhärtete sich, als die Fahnder danach die Listen ehemaliger Schüler der Weddinger Grundschule überprüften. (Frankfurter Rundschau)

Ich bin keine Kriminalistin, aber warum wäre das nicht auch möglich gewesen, wenn die Daten der ehemaligen Schüler daraufhin überprüft worden wären, ob es eine Relation zu sowas wie Exhibitionismus gab? Klar, Funkzellendaten sind bequemer, aber auch da ahne ich einigen Aufwand, um die mit den Daten der ehemaligen Schüler plus Exhibitionismus etc. abzugleichen. Dafür wären aber nicht alle anderen WeddingerInnen derselben Funkzelle potentiell verdächtig geworden.

Neinein, sagt die Berliner Staatsanwaltschaft. Funkzellenabfrage muss sein :

Dieses Instrument sei „ein wesentlicher Aspekt“ bei den Ermittlungen gewesen, so Steltner. Der Fahndungserfolg zeige, wie wichtig die FZA sein könne, um schwere Straftaten aufzuklären. (taz)

Wissenschaftler aufgepasst

Sebastian Fischer hat für den taz einen Sprachprofiler interviewt, der das Bekennerschreiben zum Anschlag auf die Berliner S-Bahn untersucht hat.

Woran erinnert mich das bloß?

Der Bekenner ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit männlich, wahrscheinlich zwischen 20 und 30 Jahre alt und hat einen hohen Bildungsgrad.

Er stammt offenbar aus einem gutbürgerlichen sozialen Milieu, hat auf keinen Fall einen Hartz-IV-Hintergrund.

Der Staatsschutz wird nun nachschauen, ob der Autor an diesen Stellen noch mal mit sprachlichen oder argumentativen Parallelen in Erscheinung tritt.

Dann wird der Staatsschutz das Schreiben auch noch mit nichtanonymem Material aus der linken Szene abgleichen.

 

(Gefunden von einem, der gerichtsbekanntermaßen komplexe Texte schreiben kann.)

Twitter and the resignation of Germany’s minister of defense

Germanys extremely popular minister of defense Karl Theodor zu Guttenberg resigned from office yesterday. There are two or three interesting aspects which make this resignation different from others.

The starting point was an article about his doctoral thesis (law) containing a number of plagiarisms, published maybe three weeks ago. This led to a vast wiki-based online collaboration of many people looking for pieces in the thesis that were in fact copied from elsewhere. Within days it turned out that approx. 70% of the 400+ pages didn’t have the necessary footnotes. The collaboration on this was started on Google docs but was moved to a proper wiki shortly after: http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/GuttenPlag_Wiki

Guttenberg and his political allies – including the chancellor – tried to belittle the whole affair as irrelevant to his being minister of defense. Alongside wild public debates an open letter was set up by doctoral students protesting against the belittlement of their academic work. Within days 30.000 signatures were collected online and handed over to the chancellor. Almost – the students were refused at the entrance of the Office of the Federal Chancellor and told that because of terrorism dangers the signatures couldn’t be accepted.. (not sure if this is really true but it could be). They were all over the news anyways.

Lastly Berlin’s first demonstration took place last saturday that was organised solely through Twitter and social networks. Some 500 people gathered in Berlin’s commercial center and marched to the ministry of defence holding up shoes – a reminiscence to the Arab shoes. This got attention in virtually all of Germany’s news, major tv news included. I’ve never participated in a demonstration that small – there wasn’t even music – that got this much national attention. (Some pictures here http://www.flickr.com/photos/tags/guttbye/interesting/)

Another Twitter revolt, style: western industrialised country? I don’t think so. Both tv and big printed papers played the decisive role. But what’s interesting is how public attention is moving ‚our‘ way. Why would less than 500 people protesting against a corrupt defense minister play any role at all? Because ‚the net people started it‘, via Twitter.

The fact that the amount of plagiarism in the dissertation was detected so fast by using a wiki played a role. It was noted widely that online collaboration can be very different and very effective in campaigning against politicians who didn’t have to fear this kind of attack so far.

Both the plagiarism detectives and the doctoral students wouldn’t have been able to get together, do something and go public this waybefore.

We’ve had Twitter, wikis, open letters online for a while. What’s new is the way this is being discussed. And the resignation of the most popular politician Germany’s had for years.