Ich könnte mich ja jetzt bestätigt fühlen. Täglich ein neuer Skandal zum Verfassungsschutz von einem Kaliber, das anderswo Regierungen zum Wanken brächte. Bei uns kann der CSU-Innenminister mit gewichtigem Ton ankündigen, den Verfassungsschutz radikal reformieren zu wollen und weiter passiert .. nichts. Ich wette, dass er mit der radikalen Reform die Ausweitung der Kompetenzen des Verfassungsschutzes meint und bisher hält niemand dagegen. (Noch) Mehr Kooperation zwischen Geheimdienst und Polizei steht als Lösung im Raum, obwohl die bewusst nach dem letzten deutschen Faschismus getrennt wurden.
Es kippte bisher: der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Verfassungsschutzes von Thüringen, von Sachsen. Das grün-rote Baden-Württemberg verweigert dem Untersuchungsausschuss Akten. In Hessen ist ein Mord kein Grund, den anwesenden VS’ler befragen zu können. Wie man in Thüringen überhaupt Chef des VS wird, weiß keiner so recht. Ich versuche mir vorzustellen, welche Empörung vorgetragen würde, wenn sowas in, sagen wir, Westafrika vorkäme. Oder einem osteuropäischen Staat, der gern Mitglied der EU wäre.
Das schöne an der Demokratie ist, dass wir (fast) alles sagen und schreiben dürfen. Es wird geschrieben und gesagt, was das Zeug hält. An kritischer Öffentlichkeit mangelt es ausnahmsweise überhaupt nicht. Das beeinflusst aber das Regierungshandeln offenbar kein Stück. Die Regierung sitzt … das … aus. Sie muss ja auch nicht befürchten, dass hier wer wegen sowas auf die Straße ginge. Und wenn, wären das doch diese Schmuddelkinder Extremisten.
Fundstücke der letzten Tage:
Wir sahen von der Zuschauergalerie hinunter auf den BKA-Chef und sahen die Wut in ihm hochsteigen und hörten ihn brüllen: „So können Sie nicht mit mir verfahren!“ Er wurde freundlich, aber sehr bestimmt darauf verwiesen, dass er hier als Zeuge befragt werde, dass er antworten müsse. Mit einer bloßen Stellungnahme sei es nicht getan. „Wir fragen Sie, und Sie antworten, und wenn wir noch einmal fragen, dann antworten Sie wieder.“ (…)
Der Chef des Bundeskriminalamtes, einer der wichtigsten der für die Sicherheit des demokratischen Staates verantwortlichen Männer, hatte ganz offensichtlich nicht verstanden, wo er sich befand. … Er hat die parlamentarische Ordnung, die zu verteidigen sein Amt ist, nicht verstanden. Der Mann – er heißt Jörg Ziercke – hat auf diesem Posten nichts verloren. Das konnten alle sehen, die in dieser Sitzung des NSU-Ausschusses saßen. (Arno Widmann, FR)
Mely Kiyak denkt schon mal weiter:
Neun Monate sind vergangen, und ich kann nicht sehen, dass der Nationalsozialistische Untergrund, sofern es ihn gibt und er so heißt, ergründet wird. Offenbar geht man davon aus, dass mit der Verhaftung Beate Zschäpes und dem Tod ihrer Komplizen sich das Problem des Rassismus, Rechtsextremismus, Rechtsradikalismus und Rechtsterrorismus erledigt hätte. Die „Aufklärung um die Mordserie“ dient der Rekonstruktion. Doch ist der sogenannte NSU eine museale, historische Begebenheit, bei der es lediglich herauszufinden gilt, ob und inwiefern Innenministerium, Polizei, Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst involviert waren?
Lieber NSU-Ausschuss Teil 1 / Teil 2 / Teil 3
Vielleicht hat sie ja die Fragen von Lorenz Matzat gelesen.
Erstaunlich ist, dass nach wie vor offenbar ohne großen Zweifel den Verlautbarungen der diversen Behörden Glauben geschenkt wird. Deren Mitarbeiter in Vergangenheit immer wieder bewusst gelogen und vertuscht haben. Offizielle – oft nicht zweifelsfrei belegte – Narrative werden als Fakten akzeptiert. Doch was ist beispielsweise mit diesen Fragen: Wie das war mit dem Selbstmord der zwei NSU Mitglieder; dass es nur drei NSU Mitglieder gäbe; wer rief Zschäpe von einer Behördentelefonnummer aus dem sächsischen Innenministerium am 4.11.2011 an; warum wurden die Videos verschickt, wenn eigentlich alle Spuren durch den Brand im Wohnhaus der Zelle vernichtet werden sollten; ist Fromm aus freien Stücken als VS-Chef zurückgetreten oder kam er einer Entlassung durch Friedrich zuvor; usw. usf.
Der außerdem kurz anreißt, welche einfachen Möglichkeiten des Einsatzes von Online-Medien gerade verpasst werden.
Ganz abgesehen davon, dass keine Redaktion ein dezidiertes Blog oder zumindest ab und zu etwa rund um Untersuchungsausschusstermine “live“ bloggt – es wäre doch eigentlich nahliegend, eine Plattform oder eben Datenbank aufzubauen, die prozesshaft in Text-, Bild-, Audio- und interaktiven Grafikformaten sammelt, was Kenntnisstand ist …
Wäre es. Das Gute liegt so nah. Immerhin gibt es jetzt eine Möglichkeit, unveröffentlichte Behörden-Dokumente zum Thema bekannt zu machen: NSU-Leaks.
Der Presseclub debattierte letzte Woche auch dazu, wer Mely Kiyak mal ausführlicher erleben möchte: Auf dem rechten Auge blind?
Sehr ausführlich beschäftigt sich Wolf Wetzel mit dem Thema (lasst Euch vom etwas anstrengenden Layout nicht abschrecken, es lohnt sich wirklich): Der staatliche Rettungschirm für die neonazistische Mordserie des ›Nationalsozialistischen Untergrundes‹. Hier beschäftigt er sich u.a. mit der bizarren Geschichte in Hessen, als ein V-Mann namens „Klein-Adolf“ zwar direkt daneben stand, als einer der NSU-Morde geschah, aber, vom hessischen Innenminister gedeckt, dazu nicht befragt werden durfte.
Ein §129-Verfahren gegen Antifas in Sachsen eingestellt
Und sonst? Wurde in Sachsen gerade eins der diversen §129-Verfahren eingestellt, dass im Kontext der – Überraschung – Proteste gegen Nazis gegen Antifas begonnen wurde. Das Bündnis ‚Nazifrei! – Dresden stellt sich quer‘ dazu (pdf):
Die Verfahren wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung nach §129 StGB gegen am 19. Februar 2011 im Haus der Begegnung Dresden in Gewahrsam genommene Personen wurden eingestellt. … Zuvor hatten mehrere Betroffene über ihre Anwält_innen Verzögerungsrüge aufgrund des nunmehr seit sechzehn Monaten andauernden Ermittlungsverfahrens ausgesprochen. (…)
Wir halten auch diese Verfahren lediglich für ein Konstrukt, das gezielt entwickelt wurde, um umfangreiche Strukturermittlungen gegen Linke vornehmen zu können. Schließlich wird den Ermittlungsbehörden mit dem Paragraphen 129 ein umfangreiches Repertoire an Methoden zur Seite gestellt, das sowohl Telefonüberwachung, Internetüberwachung als auch flächendeckende Observationen und Rasterfahndung ermöglicht.“ Das Bündnis “Nazifrei! – Dresden stellt sich quer“ fordert vor diesem Hintergrund die sofortige Einstellung sämtlicher Ermittlungsverfahren.
Die sog. Vereinigungsparagraphen (§129/a/b) sind genau die Paragraphen des Strafgesetzbuches, mit denen auch Gruppen wie der NSU beschuldigt würden.
Wie gesagt: hier waren dieselbe Staatsanwaltschaft, dasselber LKA, derselbe Landes-VS am Werk wie beim NSU. In diesem LKA gab es jemand, der eine Telefonnummer von Beate Zschäpe hatte und sie anrief, während sie jahrelang ungestört im Untergrund in Sachsen lebte. Diese selben Ämter hatten aber kein Problem, Funkzellenabfragen gegen eine halbe Stadt, umfassende Überwachung, Durchsuchungen und Verfahren gegen Antifas einzuleiten und auszuwerten. Es ist auch erst eins dieser Verfahren eingestellt – in den anderen Fällen wird munter weiter überwacht. Von Beamten, die offenbar der Meinung sind, es sei kein Problem, das VS-Desaster mit Alkohol oder Vergesslichkeit zu erklären.
Es ist übrigens in deutschen Gerichten vollkommen üblich und akzeptiert, wenn anonyme VS-Figuren behaupten, dass Linke dies und jenes getan oder gesagt hätten und sicher zu dieser oder jender linksextremistischen Gruppierung gehören. Da muss nichts begründet werden und es kann auch nicht gefragt werden, woher die Annahme stammt. Aus diesen Hinweisen werden dann die Verfahren entwickelt, mit denen ganze Szenen jahrelang überwacht werden. Ganz demokratisch.