Eine Woche nach der Konstituierung des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestags ist gestern sein Vorsitzender zurückgetreten. Das ist ziemlich ungewöhnlich, deswegen war die Nachricht überall Top-Meldung. Einen Ausschussvorsitz geben Abgeordnete nur selten freiwillig ab, denn er ist mit allerhand Macht und entsprechender Öffentlichkeit verbunden, siehe auch etwa Edathy als Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses in der letzten Wahlperiode.
Und was geschah gestern? Agenturen und nach und nach die Qualitätsmedien des Landes tippten brav ab, was Binninger diktierte: Zuerst, er sei zurückgetreten, weil es Unstimmigkeiten unter den Ausschussmitglieder gegeben habe und „eine sachdienliche Zusammenarbeit aller Fraktionen nicht möglich“ sein würde. Kurz danach hieß es, die Opposition wolle den Untersuchungsausschuss zur parteipolitischen Profilierung nutzen.
My ass. Natürlich will sie das. Es ist ja nicht so, dass sonst im Bundestag alles im Konsens entschieden würde, oder die Regierungsfraktionen nicht an Profilierung interessiert wären. Dass es zum Thema NSA unterschiedliche Interessen gibt, war Herrn Binninger sicher auch nicht neu, immerhin war ja schon das Zustandekommen des Ausschusses keine besonders harmonische Angelegenheit: CDU und SPD haben aus nachvollziehbaren Gründen nicht so großes Interesse an Aufklärung etwa der Rolle der deutschen Geheimdienste und der Verwicklung ihrer eigenen Politiker_innen in die Pauschal-Überwachung in Deutschland. Das wusste er schon, als er den Job übernommen hat.
Und die Medien also? Keine kritische Nachfrage. Böse, böse Opposition! Wollte einfach die 0,5 Minderheitenrechte, die sie haben, auch durchsetzen. Wer konnte das ahnen! Sie bestand darauf Snowden einzuladen: ungeheuerlich! Ohne darauf herumreiten zu wollen, aber: die Grünen sind die kleinste Fraktion im Bundestag. Ihre Möglichkeiten in den vier Jahren dieser Legislarur sind denkbar schlecht. Mit Ströbele und dem Thema Snowden haben sie ein gutes Thema und auch ein völlig vernünftiges Thema, und keine Regierung(sfraktion) der Welt wäre ernstlich schockiert, wenn ihnen sowas präsentiert würde.
Die offensichtlichen Fragen sind doch, was tatsächlich der Grund für den Rücktritt war. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten:
- Binninger wurde unter Druck gesetzt: von wem? warum?
- Binninger wurde etwas Besseres versprochen: was?
- Binninger hat etwas erfahren, was ihn so stört, dass er nicht mehr will – das müsste dann schon was ziemlich Erhebliches sein: was?
Heute morgen bewegt sich die Medienlandschaft gemächlich in Richtung der einen oder anderen Nachfrage. Ich unterstelle mal, dass die Hauptstadtjournalist_innen mit besseren Kontakten zur CDU deutlich mehr über die Hintergründe wissen als ich oder alle anderen, die bloß zugucken.
Im Deutschlandfunk entwickelt sich ein Appetit am Thema, da wurde heute morgen Wolfgang Kaleck, Snowdens deutscher Anwalt, gefragt:
„Herr Binninger hat sinngemäß gesagt, Snowden hat wahrscheinlich nicht so wahnsinnig viel zur Aufklärung beizutragen, weil er das Material, das er ja hat mitgehen lassen, weitergegeben habe an Journalisten, und außerdem handele es sich bei ihm lediglich um so etwas wie eine Art Systemadministrator. …“
Vielleicht ist ja auch erkannt worden, dass sich Herr Binninger an sich nicht so richtig für Innenpolitik eignet, aber es wäre sicher trotzdem interessant, wie das genau vor sich gegangen ist.
Update: Die Süddeutsche hatte schon gestern ein paar Fragen: Binningers mysteriöser Sinneswandel (Danke, Hannah Beitzer)
Foto: Stéfan via photopin, CC-BY-NC-SA-Lizenz