Die Schnittmenge zwischen Journalismus und Aktivismus

camera-medium_4773079216Gestern gab es bei DRadioWissen ein einstündiges Gespräch dazu, was den Unterschied zwischen Journalist_innen und Aktivist_innen ausmacht: Das Ende der Unterschiede?. Wenig überraschend sind die Beteiligten zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen, ich fand vor ein paar Tagen schon, dass vor allem gut ist, dass die Debatte über Journalismus stattfindet.

Bei DRadioWissen ging es Juliane Leopold (Zeit Online), Falk Steiner (D-Radio), Daniel Bröckerhoff (Blogger und Freier) und Vera Linß (DRadioWissen) vor allem um die Definition von Journalismus in Abgrenzung zu Aktivismus. Die Diskussion drehte sich um die journalistische Gretchenfrage: Dürfen Journalist_innen eine Meinung haben? Soll bzw. muss die erkennbar sein und wie?

Die klassische Antwort ist, dass sie eine haben dürfen, aber dass sie nicht erkennbar sein soll, es sei denn, sie schreiben einen Meinungsbeitrag, oder Kommentar. Tatsächlich wissen wir natürlich, dass es keinen Text gibt, der rein objektiv, neutral, ‚wahr‘ ist. Die eine Wahrheit gibt es nicht – keine besonders revolutionäre Erkenntnis. Bei Naturwissenschaften unterscheidet sich das vielleicht in Nuancen, aber aber auch da beeinflusst die (interessengeleitete) Fragestellung das Ergebnis. Ich bin keine Medienwissenschaftlerin und weiß nicht, ob und wie das sonst diskutiert wird, aber es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass diese Überlegung in Debatten über Journalismus noch nicht eingeflossen sei.

Dazu kommt, dass nicht erst seit gestern bekannt ist, dass Journalist_innen nicht im luftleeren Raum agieren. Im Unterschied zu (den meisten) Blogger_innen verdienen sie mit Journalismus Geld, sind also abhängig von ihren Auftrag- oder Arbeitgeber_innen. Es ist ja kein Zufall, dass die Artikel in der FAZ konservativer sind als die in der Frankfurter Rundschau (waren). Da in der Regel alle über dieselben Themen schreiben (ein anderes, trauriges, Kapitel), müsste nach den in der aktuellen Debatten hochgehängten journalistischen Qualitätsstandards in etwa überall dasselbe stehen. Wenn wir mal davon ausgehen, dass jeweils auf die Einhaltung des Pressekodex geachtet wird, dann dürften die sich eigentlich gar nicht unterscheiden, schon gar nicht zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Weil die Journalist_innen aber Geld verdienen müssen, geht es in den Beiträgen nicht (nur) um ihre eigene Fragestellung, sondern (auch) um die derer, die sie bezahlen. Das ist an und für sich auch nicht schlecht: ich lese (sehe, höre) gern verschiedene Sichtweisen auf ein Thema. Gut wäre eben, wenn das auch Einklang in die Definition von Journalismus fände: dass Journalist_innen Menschen sind, die eine Meinung haben und sich dazu in der Regel in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden, und sich beides in ihren Beiträgen wiederfindet.

Als vor knapp 15 Jahren Ende 1999 das unabhängige Medien-Netzwerk Indymedia gegründet wurde, war genau dies eine seiner Wurzeln: Kritik an den bestehenden Medien. Die beiden anderen waren Technik (die Möglichkeit, im Web ein CMS zu betreiben, mit dem alle, die wollten, im Netz veröffentlichen konnten: 1999 revolutionär neu) und Politik (Indymedia verstand sich als mediale Plattform der globalisierungskritischen Bewegung, die sich vor allem in Gipfelprotesten ausdrückte). Indymedia wurde irgendwann vom Web 2.0 überholt und konnte, unfinanziert und von Freiwilligen betrieben, mit den kommerziellen Plattformen nicht mehr mithalten. Viele Indymedia-Aktive haben diese Plattformen mitentwickelt – Twitter beispielsweise hat seine Ursprünge in den Gipfelprotesten um den Jahrtausendwechsel.

Das ‚unabhängig‘ im Namen stand und steht für die Medienkritik: kommerzieller, also bezahlter Journalismus ist zwangsläufig abhängig und wird damit auch inhaltlich beeinflusst. Das heißt nicht, dass Journalismus in seiner klassischen Definition zwingend schlecht ist. Es war aber auch die Aufforderung, die Journalismus-Definition endlich vom hohen Ross zu holen und der Realität gegenüberzustellen. Ich amüsiere mich regelmäßig darüber, dass der Begriff „Qualitätsjournalismus“ ernst gemeint ist und bspw. im Bundestag immer mal wieder Anhörungen des Kulturausschusses zum Qualitätsjournalismus stattfinden. Irgendwann wurde der Begriff Bürgerjournalismus, auch Citizen Journalism, erfunden für die Leute, die einfach so ihre Beobachtungen, Meinung, Fotos oder Videos in bestimmten Medien veröffentlichen und qua Definition an die hohe Qualität des ‚richtigen‘ Journalismus nicht ranreichten. Mir rollen sich die Zehennägel hoch, wenn sich Menschen selbst so bezeichnen. Kurz darauf began die Diskussion darüber, ob Blogger_innen so gut wie Journalist_innen sein können. Die wurde schon erheblich erbitterter geführt, sicherlich auch, weil Blogger_innen in der Regel ein größeres Ego mit sich herumtragen und es ihnen (ok: uns) öfter um Selbstdarstellung geht.

Aus dieser Auseinandersetzung mit Medien und dem alten Begriff des Journalismus rund um Indymedia entstand der Begriff ‚Medienaktivismus‘. Und hier schließt sich der Kreis zur aktuellen Debatte darum, ob Glenn Greenwald Journalist oder Aktivist ist. Können Journalist_innen, die sich kritisch mit Medien und der politischen Auseinandersetzung über Medien beschäftigen, überhaupt Journalist_innen sein, oder sind sie zwangsläufig Aktivist_innen, weil es um sie selbst und ihre Rolle geht? Bei DRadioWissen ist diese Diskussion gestern teilweise in Haarspalterei ausgeartet: Wenn ich zu einer Demo aufrufe, bin ich dann Aktivist_in, nicht Journalist_in? Eher Aktivist_in. Was aber, wenn ich als Journalist_in eine_n Politiker_in zum Rücktritt auffordere? Journalismus sei das nur, wenn es gut begründet sei, während Aktivist_innen ihre Überzeugungen nicht begründen müssten, wurde gesagt. An dem Punkt hatte ich den Eindruck, dass die Diskussion erheblich ins Schwimmen geriet. Natürlich müssen Aktivist_nnen ihre Meinung und Forderungen begründen, sonst hört wirklich niemand zu, und mehr als Preaching to the Converted kommt dabei nicht raus. Auf der anderen Seite wäre nicht schwer, zig Beispiele von Journalismus zu finden, bei denen die (belegte) Begründung für Behauptungen fehlt.

Irgendwie wird von der Annahme ausgegangen, dass Journalist_innen in der Lage seien, genügend Distanz zum Thema ihrer jeweiligen Arbeit zu bewahren, während Aktivist_innen das nicht könnten, oder wollten. Die Distanz werde erkennbar in eingefügten Sätzen, die die eigene Position erläutern: „Der Autor hat die Demonstration angemeldet“ wurde gestern als Beispiel genannt. In der Form halte ich das für ziemlichen Quatsch, muss ich sagen. Es ist natürlich nicht schlecht, sogar wünschenswert, dass erkennbar ist, in welchem Verhältnis Autor_innen zu ihrem Thema stehen. Aber das ein paar Sätze die entscheidende Trennlinie zwischen Journalismus oder kein Journalismus ziehen, löst das Problem nicht.

Und wenn Journalist_innen über Medien, über Journalist_innen und ihre Situation in den Medien schreiben jenseits von der puren Faktenauflistung, dann sind sie eher Medienaktivist_innen. Medienjournalismus könnten es eigentlich, der Idee des reinen Journalismus folgend, gar nicht geben. Ich denke, dass es ihn schon gibt, aber ich denke ja auch, dass die Definition von Journalismus gründlich erneuert werden müsste.

Es gibt beim unabhängigen, oder Bürgerjournalismus, genauso wie bei Blogger_innen wie eben auch im klassischen Journalismus Beiträge mit journalistischer Qualität. Bei allen drei geht nicht im die Form, sondern um den Inhalt: erkenne ich, wann es sich um möglichst sachliche Beschreibungen handelt und wann um Kommentar? Werden mir unterschiedliche Meinungen zum Thema präsentiert? Werden Quellen belegt?

Und damit ist Journalismus nicht durch den Ort der Veröffentlichung definiert, sondern durch die Qualität des Textes (Beitrags). Wie ich vor zwei Tagen schon schrieb: mir ist bewusst, dass das problematisch ist, weil die Funktion von Journalismus als Kontrolle von Regierungen und Parlamenten aktuell überhaupt nicht unterschätzt werden kann. Aber genauso, wie sich Medien in den letzten Jahrzehnten weiter rasant verändert haben, muss sich die auch die Definition von Journalismus ändern.

Und zu Glenn Greenwald: der ist in (in der Regel) Journalist, wenn er die Leaks von Edward beschreibt und einordnet. Beim 30C3 war er Aktivist. Es ist ja nicht mal kontrovers, dass er auch früher schon Aktivist war und dann erst Journalist wurde. Warum ist das jetzt plötzlich ein Problem?

 

Update: Ich vergaß den Disclaimer, dass ich, gemeinsam mit vielen anderen, 2001 an der Gründung von Indymedia in Deutschland beteiligt und dort bis 2007 teilweise aktiv war.
Und wurde darauf hingewiesen, dass aus dem Text herausgelesen werden könne, ich sei der Meinung, Blogger_innen seien eitler als Journalist_innen. So war das natürlich nicht gemeint!

Foto: svxx via photopin CC-BY-NC-ND-Lizenz

Wer ist Journalistin*?

presse-medium_6413917193Wir haben eine neue Journalismus-Debatte. Glenn Greenwald sprach per Skype die Keynote des 30C3 und sagte dabei ‚wir‘ und nicht ‚ihr‘, als er über die Folgen der Snowden-Leaks und die politischen Aufgaben sprach, die sich daraus ergeben. Kai Biermann und Patrick Beuth (Zeit Online) finden, dass er damit den heiligen Gral des Journalismus verlassen hat und zum Aktivist geworden ist. In der Folge gab es die obligatorische Twitter-Debatte und weitere Artikel.

Nach der ‚Blogger sind keine Journalisten‘- haben wir jetzt also eine ‚Was sind eigentlich Journalisten‘-Debatte. Gut so. Dessen Definition ist nämlich nicht so einfach, bei allem Respekt für den journalistischen Ethos und Ubervater Hajo Friedrichs.

Bei Zeit Online wird also gefragt:

Kann jemand gleichzeitig Journalist und Aktivist sein?

Ich fragte mich gestern (twitternd): was ist denn ein Journalist, oder eine Journalistin? Ist das ein Beruf, eine Identität, ein zeitweiliger Zustand? Eine Selbstzuschreibung von mehreren?

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Die Apathie regt mich auf

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Direkt nach dem Aufwachen spült mir Facebook über Freundinnen drei ganz unterschiedliche Artikel in die Timeline.

Carbon dioxide in the atmosphere crosses historic threshold

The ratio of carbon dioxide in the Earth’s atmosphere has surpassed 400 parts per million in an average daily reading at Hawaii’s Mauna Loa Observatory, the highest concentration of the heat-trapping greenhouse gas in millions of years. (…)

Climate scientists have calculated that the world needs to keep carbon dioxide emissions from crossing the 400-ppm threshold in order to avoid a rise of 2 degrees Celsius (3.6 degrees Fahrenheit) above the average global temperature of pre-industrial times and profound changes to nearly every aspect of life. (…)

“This needs to be a wake-up call,” said  Melanie Fitzpatrick, climate scientist at the Union of Concerned Scientists, a research and advocacy group based in Washington.  “If we don’t reduce carbon soon, we may no longer talk about searing summer temperatures, 100-year storms and intense droughts as something unusual because they may be the norm.

(Los Angeles Times, 10. Mai 2013)

Dann

La banca desalojó por la fuerza de su casa al menos a 2.405 familias en 2012

(Die Bank hat 2012 mindestens 2.405 Familien zwangsgeräumt)

(El Pais, 10. Mai 2013)

Und

Der schwere Stand der Bürgerrechte

… der Fall des pensionierten Vorsitzenden Richters am Landgericht Dieter Reicherter. Er wurde zum Gegner von Stuttgart21, nachdem er mehr oder minder zufällig miterlebt hat, mit welcher Brutalität die Polizei im Stuttgarter Schlosspark gegen friedliche Demonstranten vorgegangen ist. (…)

Am 27.06.2012 durchsuchte die Polizei das Haus von Dieter Reicherter, der sich gerade in London aufhielt und beschlagnahmte einen Computer und ein Notebook. Ohne richterliche Anordnung – wie Reicherter sagt – wurde eine umfassende Auswertung seiner Rechner durchgeführt. Reichterter schildert dies in einem Brief an verschiedene Beteiligte, deren E-Mails mitbeschlagnahmt und ausgewertet wurden. Darunter ist auch der E-Mail-Verkehr mit einem Journalisten der taz.

(Internet-Law. Onlinerecht und Bürgerrechte 2.0, 10. Mai 2013)

Oder auch: die Lage ist nicht lustig. Wir machen den Planeten und unsere Lebensgrundlagen kaputt, die Finanzkrise(n) sind mörderisch wie eh und je und unsere Demokratie ist eine Farce.

Was mich echt nervt, ist die Apathie. Die Erwartung, dass a) wir nichts tun können und b) irgendwer anders irgendwas machen sollte. Uns geht’s ja noch einigermaßen. Erstmal muss ich mich um mich (meine Kinder) kümmern.

Selbstverständlich ließe sich das alles ändern. Selbstverständlich wäre das nicht einfach, aber dass das so ist, weil wir hinnehmen, dass einige entscheiden, wo’s lang geht, die sich vor allem darum kümmern, dass alles so bleibt, wie es ist, ist doch hinreichend deutlich.

Die SPD? HAHAHA. (Hartz IV und so). Zur Bereitschaft der Grünen, irgendwas jenseits der Umwelt schützen zu wollen, hörte ich neulich ein empfehlenswertes Gespräch mit Heiner Flassbeck über „Gerechte Wirtschaft“ im RBB KulturRadio. Flassbeck war 98/99 unter Lafontaine Finanzstaatssekretär (und dann Chef-Volkswirt der UNCTAD) und bekam die unausweichliche Gretchenfrage gestellt, ob er nicht enttäuscht war, dass Lafontaine gleich hingeschmissen hat. Er antwortete:

Naja, die Enttäuschung war weniger Lafontaine, die Enttäuschung war diese gesamte Regierung. (…) Weil diese Regierung war kaum im Amt, die war drei Tage im Amt und war schon tief gespalten (…) Es war nach kurzer Zeit auch schon klar, dass die Schröder-Leute, sage ich mal, ein ganz anderes Lager besiedeln und ein ganz anderes Programm hatten als wir (…) Es also nicht Lafontaine, der mich enttäuscht hat, sondern diese gesamte Konstellation in der SPD.“

Es wäre ja genau die Chance gewesen, genau das, wofür Sie stehen, mal durchzusetzen?

Ja, nur man muss natürlich dann eine oder zwei Parteien haben, die das auch begreifen und auch dahinter stehen. Und auch die Grünen haben damals nicht dahinter gestanden. Es gab einfach überhaupt keine Neigung, so wie Joschka Fischer das gesagt hat, sich mit den Finanzmärkten anzulegen. Joschka Fischer hat zu Lafontaine fragend gesagt: „Wollt Ihr Euch etwa mit den internationalen Finanzmärkten anlegen?“ Das war genau das Programm, ja. Damit hätte man sich anlegen sollen, dann wäre uns vieles erspart worden.

(RBB Kulturradio, Das Gespräch, 5. Mai 2013)

Ich bin aus verschiedensten Gründen echt keine Freundin von Lafontaine, aber diese ewig wiederkehrende Interpretation, er hätte gekniffen und sei ein Feigling ist ein Beispiel für das Totalversagen der Medien als Vierte Gewalt in diesem Land. Gekniffen haben die Grünen und die SPD, und das ist noch die positivste der möglichen Interpretationen. Eine andere wäre, dass sie kein Interesse haben, an den Zuständen etwas zu ändern.

Aber wer sonst soll denn etwas ändern? Wir leben in einem der reichsten und mächtigsten Länder. Es gibt viel Stolz und Zufriedenheit über die Demokratie, die hier besser dastünde als fast überall sonst. Stimmt wohl sogar. Aber dann ist es auch unsere verdammte Verantwortung, nicht einfach hinzunehmen, was passiert und mehr zu tun, als den Like-Button zu klicken. Und ich sehe die Lösung nicht in den Parteien. Ohne die geht es aktuell auch nicht, denn momentan scheinen Klima- und Finanzkatastrophen schneller voranzukommen als gesellschaftliche Utopien, die nach mehr Gerechtigkeit streben. Aber ganz offensichtlich verfangen sich ParteipolitikerInnen so schnell in Sachzwängen, sobald sie gewählt werden, dass das einfach keine Lösung ist.

Die Medien ™, um nochmal auf sie zurückzukommen, sind auch keine große Hilfe in ihrer Fixiertheit auf parteipolitische Boulevardberichterstattung. Es bereitet offenbar immer viel mehr Freude, über Ränkespielchen zwischen verschiedenen Flügeln und Personen zu schreiben als über etwas längerfristige Auswirkungen von bestimmten programmatischen Entscheidungen und wie (und warum!) es zu ihnen kam. Oder Beziehungen zwischen Parteien und der Gesellschaft und ihrer Bewegungen und Interessen. Wäre natürlich mühsamer, als ein Team von Journalistinnen zu jedem Parteitag zu schicken, die sich da die Füße plattstehen und auf dem O-Ton des frischgewählten Spitzenkandidaten warten, den wir alle schon hundert Mal gehört haben. Ich frage mich, wie diese Leute, die auf ihren Berufsethos meist so stolz sind, in Ruhe einschlafen.

Wer, wenn nicht wir.

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Bild: Kalyan Shah, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-Lizenz

Tracking von Frauen in Saudi-Arabien, oder: Wenn alle voneinander abschreiben

Das Netz ist schön dafür, dass alles vernetzt ist (sic!), dass es schnell geht, dass ich mitkriege, was geschieht (wenn ich will).

Haken: wenn alle voneinander oder den Agenturen abschreiben, spielen wir Stille Post.

Aktuelles Beispiel: die Meldung, dass Frauen aus Saudi-Arabien, die das Land verlassen, elektronisch an ihren Herrn und Gebieter verpetzt werden, der dann eine SMS kriegt. Grauenhaft auf allen Ebenen, keine Frage.

Geht überall rum, hat ja auch alles Potential: Überwachung, elektronisch, Frauenunterdrückung, irgendwo da unten.

Ist aber doch nicht ganz so, wenn dem Post auf Riyadh Bureau Glauben geschenkt werden kann:

Is the Saudi Government Monitoring Women?

An uproar broke out on Twitter last week when some Saudi women discovered that their male guardians began receiving text messages on their phones informing them that the women under their custody have left or entered the country.

Reporting on the uproar, AFP described it this way: “women in Saudi Arabia are now monitored by an electronic system that tracks any cross-border movements.” This description is inaccurate.

..

At first, I did not understand the uproar on Twitter because I thought this notification system has been in place for a couple of years now.

..

When I asked why the uproar now when this has been going on for at least a couple of years now, people told me that the difference is that in the past you had to register for the service to to receive the notification text messages. Now, they said, you get the messages even if you don’t register with the ministry.

This doesn’t make sense. How is it possible for the Ministry of Interior (MOI) to send you these messages if you don’t give them your number?

As you can see here, you opt for the service. If you don’t want to get the SMS notifications then simply don’t register with the ministry. If you registered and want to opt out, the TOCs say at the end that “Both, Subscriber and MOI have the right to end the subscription at any time without showing cause.” Opting out does not mean that your dependents would no longer need permission for travel, but rather that you would have to visit the passport office to issue the permit instead of doing that conveniently online.

Das ist auch alles nicht schön, in keinster Weise. Aber ein bisschen anders als: (nur) die saudischen Frauen kriegen neuerdings elektronische Fußfesseln.

Gehört auch zum echten Qualitätsjournalismus: nicht alles unbesehen abschreiben.

Disclaimer: ob das stimmt, was Riyadh Buereau schreibt, kann ich nicht beurteilen.

 

Bild: Flickr, CC-Lizenz, by Anduze traveller

Wolfgang Blau: Sieben Branchenmythen des Journalismus

Die Anhörung des Medienausschusses des Bundestages zu Qualitätsjournalismus hatte ich schon erwähnt, andere auch. Angenehm überrascht hatte mich, dass bestimmte – aus meiner Sicht konstruierte – Trennlinien zwischen Bloggerinnen und Bloggern auf der einen und Journalistinnen und Journalisten auf der anderen Seite mit großer Selbstverständlichkeit dekonstruiert wurden. Diese Trennlinien werden von Teilen beider Seiten sehr geliebt, aber vielleicht erledigt sich das dann ja langsam. Ich muss übrigens zugeben, dass ich bisher davon ausgegangen war, dass die Vokabel „Qualitätsjournalismus“ höchstens ironisch benutzt wird. Dem ist nicht so, der Dünkel reicht bis hin zu Professuren zum Thema (ein solcher Professor war anwesend).

Carta hat die Anhörung nicht nur live gebloggt, sondern dankenswerterweise gestern das Statement von Wolfgang Blau extra veröffentlicht, das auch noch auf meiner To-Do-Liste stand. Der Chefredakteur von Zeit Online hat die aus seiner Sicht sieben häufigsten Mythen über den Zustand des Journalismus beschrieben und kurz erläutert, warum es sich um Mythen handelt. Ich hoffe inständig, dass einige der hiesigen OberjournalistInnen sich das anhören, die Depression ablegen und in der Moderne ankommen.

1. Blogs stellen eine Gefahr für taditionelle, kommerzielle Medien dar.

2. Google ist schuld am Niedergang der Tageszeitungen.

3. Nur Print- und Broadcastmedien können für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Meinungspluralismus sorgen.

4. Der Online-Journalismus hat noch kein Geschäftsmodell.

5. Das Internet begünstigt eine Boulevardisierung des Journalismus.

6. Ohne öffentlich-rechtliche Online-Auftritte hätten die kommerziellen Websites in Deutschland sehr viel bessere Chancen, profitabel zu werden.

7. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang einiger klassischer Medien droht auch ein Niedergang des Journalismus und eine substantielle Gefahr für die Demokratie. (Carta)

Noch nicht einzeln gibt es die Statements von Katharina Borchert, Geschäftsführerin Spiegel Online oder auch @lyssaslounge, Hans Leyendecker, netzwerk recherche, und Matthias Spielkamp, irights.info, die ebenfalls das Gespenst verscheucht haben, dass in etwa so heißt: „Die Blogger kommen, lasst uns einen Zaun bauen, sonst werden wir alle verhungern! Und die Demokratie bricht zusammen!“. Es gibt aber auch die komplette Aufnahme der Anhörung (auch als mp4).

Ich mache mir wenig Hoffnung, dass die Anhörung Bundestagsentscheidungen positiv beeinflussen wird, aber sie war ein Schritt in die richtige Richtung. Wobei es natürlich auch Statements gab, die ganz andere Meinungen vertreten haben, und ich natürlich nicht alles teile, was gesagt wurde usw usf. Trotzdem. Glas viertelvoll.