Mein Talk beim 37C3

Ende Dezember fand der 37. Congress des CCC statt und ich hatte die Gelegenheit, dort über neue Entwicklungen bei der Digitalen Gewalt zu reden.

In meinem Talk ging es u.a. um

  • neue Entwicklungen, Zahlen, Veränderung seit der Pandemie
  • neue Gesetze und Statistiken
  • die Erwähnung des Themas im Ampel-Koalitionsvertrag
  • wie viel (eigentlich: wie wenig) Geld für den Schutz vor digitaler Gewalt ausgegeben wird
  • die Ankündigung eines Digitale-Gewalt-Gesetzes durch das BMJ
  • was das mit Restaurantkritik zu tun hat
  • meine letzte Kleine Anfrage dazu für die Linksfraktion
  • ein neues EU-Gesetz zur digitalen Gewalt
  • etwas Neues vom BSI.

Hier das Video:

Wer lieber einen Bogen um YouTube machen möchte, findet das Video auch hier, bei media.ccc.de. Dort gibt es auch gleich die englische und französische Übersetzung in der Video-Datei.

Hier die Slides als PDF.

Ich freue mich immer über Feedback aller Art – hier, oder gern auch im Feedback-Formular zum Congress.

(Einige) Materialien zum Talk:

 

Und nu?

Großer Feuerball vermutlich nach einer Explosion, im HIntergrund der Umriss eines Gebäudes.Weil gerade fast täglich Menschen überrascht reagieren, wenn ich erkläre, was das Medien- und Politik-Theater von Ms. Voldemort (aka S. Wagenknecht, plus friends) konkret für mich und andere Beschäftigte der Linksfraktion für Folgen hat, hier etwas ausführlicher.

(Bei manchen ist das vielleicht letztlich gar nicht so sehr Überraschung, sondern auch Empathie, um nicht schulterzuckend mit ‚Naja, war ja klar‘ zu reagieren. Danke dafür. Es ist nie schön, daneben zu stehen, wenn andere den Job verlieren.)

Die Linksfraktion im Bundestag zerfällt und was heißt das also konkret für die Leute, die da arbeiten? Dabei geht’s jetzt nicht um die politischen Auswirkungen oder Ursachen – das wäre ein anderer Text. Ich will hier nur beschreiben, was es praktisch bedeutet, weil ich das oft gefragt werde. Also:

Weil die Fraktion eh klein ist, verliert sie den Fraktionsstatus, wenn mehr als zwei Abgeordnete (MdB, Mitglieder des Bundestages) die Fraktion verlassen. Geregelt ist das in der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT), aber nicht sehr detailliert. Wenn es diesen Status nicht mehr gibt, sind die MdB zwar noch Abgeordnete, aber die Fraktionsbeschäftigten haben keine Arbeitgeberin mehr, weil es die nicht mehr gibt, und damit eben auch keinen Job.

Es gibt zwei verschiedenen Formen der Beschäftigung rund um die Linke im Bundestag (entsprechend bei den anderen Fraktionen): Die einen werden direkt von den MdB angestellt und die anderen von der Fraktion. Erstere arbeiten direkt und nur den MdB zu, die anderen wie ich als Referent*innen für bestimmte Themen für alle, meistens einem Ausschuss zugeordnet – bei mir ist / war das der Digitalausschuss. Andere machen Öffentlichkeitsarbeit, die Buchhaltung, Veranstaltungsorganisation, sind mit der Organisation der parlamentarischen Abläufe beschäftigt etc.: Die gehören auch zu der zweiten Gruppe.

Für die Fraktion direkt arbeiten aktuell gut 100 Personen und für die gilt: In dem Moment, in dem es die Fraktion nicht mehr gibt, wird sie formal aufgelöst („liquidiert“) und es müssen für alle betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden. Üblicherweise mit einer Frist von sechs Wochen zum Quartalsende und das steht uns jetzt bevor. Weil es das noch nie gab und weil Fraktionen allein für den Prozess der Entscheidung, wie mit dieser aktuellen Situation weiter verfahren wird, einen Moment brauchen, kann es also sein, dass die Kündigungen zu Ende Dezember oder aber erst zu Ende März eintrudeln.

Bekanntlich haben 10 MdB angekündigt, aus der Linken (Partei) auszutreten. Das bedeutet laut Geschäftsordnung der Fraktion, dass sie damit innerhalb von 48 Stunden auch nicht mehr Mitglieder der Fraktion sind – es sei denn, sie beantragen, es zu bleiben. Haben sie, glaube ich, aber ich bin gerade im Urlaub (super Moment!) und kriege nicht alles ganz genau mit. Darüber muss der Rest dann entscheiden. Um das entscheiden zu können, muss überhaupt erst mal eine Fraktionssitzung einberufen werden und stattfinden und dann beschließen, wie sie damit umgehen wollen. Das dauert alles einen Moment. Ich lehne mich aber nicht sehr weit aus dem Fenster, wenn ich prognostiziere, dass die nicht alle miteinander weiter in einer Fraktion bleiben werden. Und das ist auch gut so, politisch, auch wenn es für uns individuell unerfreudlich ist. Klar wäre am besten, wenn die, die gehen, ihre Mandate zurückgeben würden, die sie auf den Listen der Linken bekommen haben, aber so nobel werden sie nicht sein, denn dafür kriegen sie ja Geld und Aufmerksamkeit. Täten sie es, würden andere nachrücken und die Fraktion bliebe bestehen.

Was dann noch möglich ist: Die MdB, die in der (noch) Fraktion bleiben, können beantragen, eine ‚Gruppe‘ zu bilden. (Dazu steht ein bisschen was in den Erläuterungen der GO-BT.) Das wäre dann ein Zusammenschluss aus MdB, die aber nicht genug sind, um eine Fraktion zu bilden. Das gab’s schonmal, als die Vorgängerin der Linken, die PDS, lediglich zwei direkt gewählte MdB hatte und ansonsten weniger als 5% und damit zuwenig, um eine Fraktion zu bilden.
Aktualisierung:
Dankenswerterweise wurde ich darauf hingewiesen, dass das nicht stimmt. Die Gruppe der PDS gab es vorher, aber nicht, als nur die beiden direkt Gewählten im Bundestag saßen. Mehr zu verschiedenen Gruppen im Bundestag hier.

Der restliche Bundestag muss dem aber zustimmen, und ob der das dann macht: Who knows. Falls es so eine Gruppe aber geben sollte, gäbe es auch etwas Geld dafür, so wie auch Fraktionen Gelder bekommen, um Leute einzustellen, Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Ich weiß nicht, wieviel eine Gruppe bekäme, aber vermutlich weniger, weil sie ja eben einerseits keine Fraktion wäre und andererseits aus weniger MdB bestünde.

Ob das stattfindet, ob dieser Prozess in absehbarer Zeit und vor der nächsten Wahl 2025 abgeschlossen würde: Das kann gerade niemand wissen. Üblicherweise dauern demokratische Verfahren immer länger, je mehr Leute, Gremien, Ebenen beteiligt sind und wenn es das alles bisher so noch nicht gab: Ein Fest für Jurist*innen. Danach müssten sich die dann verbleibenden MdB entscheiden, was sie mit dem Geld machen, wer also wie wen wofür einstellt: Auch das dauert üblicherweile einen Moment.

Wir aber sind bis dahin gekündigt und das wird voraussichtlich praktisch bedeuten, dass wir mit dem Aussprechen der Kündigung aufgefordert werden, unsere Büros auszuräumen, die Schlüssel und die Hausausweise abzugeben und danach freigestellt sind. Alles, womit wir arbeiten, muss zurückgegeben bzw. aufgelöst werden: Das sind einerseits Bücher, Rechner, Möbel, aber vor allem auch das digitalisierte Wissen, mit dem wir arbeiten.

Damit geht dann sehr viel Wissen und Erfahrung verloren und ich gebe zu: Das schmerzt. In einem gewissen Maß gehört das dazu, das wissen auch alle, die in der Politik arbeiten – aber das hier ist doch was anderes.

Andererseits: Es gibt demnächst eine Menge Menschen auf dem Arbeitsmarkt, die krass kompetent sind. Die können in kürzester Zeit zu den unterschiedlichsten Themen Deadlines halten (der Bundestag kennt da nichts), mit einigermaßen wilden Chef*innen und gleich mehreren davon gleichzeitig zurechtkommen, bizarre Themen allgemeinverständlich übersetzen, Beschimpfungen aus allen Richtungen weglächeln und nebenbei noch Ideen entwickeln. Vielleicht braucht die jemand?

Jedem Ende wohnt ein Anfang .. ist ein Mythos, habe ich gerade gelernt, denn tatsächlich heißt es bei Hesse „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Vorher aber erstmal das Ende, und dann mal sehen.

Sollten jetzt noch Fragen offen geblieben sein: Fragt, dazu gibt’s die Kommentare.

 

Bild: Jeff Kingma auf Unsplash

Warum Bluesky statt Mastodon?

Eine fliegende Möwe von hinten vor blauem Himmel. Am unteren Rand ein dunkelblauer Streifen Meer.

Für einen Text über Bluesky hatte mich Markus Reuter gestern für netzpolitik.org um ein paar Einschätzungen gebeten. Die sind in seinen Text Warum Bluesky gerade durch die Decke geht – und was Mastodon daraus lernen kann eingeflossen.

Zu jeder seiner Fragen hätte ich noch mehr sagen können, aber es war klar, dass es nur um ein paar Sätze geht. Ich habe mich also bewusst einigermaßen kurz gefasst.

Warum gibt es jetzt diesen Run auf Bluesky?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Der erste: Weil es geht. Bisher sind Invites nötig und wie wir während der Pandemie gelernt haben: Exponentielles Wachstum geht ganz schön schnell, wenn eine bestimmte Menge erreicht ist. Das ist offenbar gerade der Fall.

Dazu kommt die Twitter-Flucht. Das kennen wir schon von Mastodon: Wenn Elon Musk etwas ändert oder ewas besonders Abstoßendes äußert, setzt eine Welle ein weg von Twitter. Sein Tweet kürzlich zur Seenotrettung war ganz offensichtlich so ein Auslöser.

Und schließlich schreiben viele, dass sie mit Mastodon nicht warm geworden sind und hoffen, dass Bluesky ihre Twitter-Alternative wird.

Warum erscheint BlueSky Deiner Meinung nach attraktiver für relevante Teile der (deutschen) Twitter-Öffentlichkeit als Mastodon damals?

Viele schreiben, dass sie Bluesky weniger umständlich, weniger kompliziert finden und spontan besser damit klarkämen. Der zweite Grund, der viel genannt wird: Die Rechthaberei bei Mastodon, die ungebetenen Erklärungen und dazu die Schwierigkeit, dort die passende Community (wieder-) zu finden.

Interessant ist, wieviel Zuversicht es gibt, dass Bluesky all das einlöst. Aktuell im Beta-Stadium funktioniert vieles nicht, was von Twitter gewohnt ist: Keine DMs, keine Hashtags, keine Gifs oder Videos und die Verifizierung des eigenen Accounts ist noch komplizierter als bei Mastodon. Es gibt wenig Möglichkeiten, sich vor Angriffen zu schützen, denn der eigene Account kann nicht auf ‚protected‘ umgestellt werden und alles am eigenen Verhalten ist öffentlich, selbst die Blocklisten. Trotzdem scheint allein die Ästhetik der Plattform zu vermitteln, dass alles so wird wie von Twitter gewohnt. Ich bin mir da nicht so sicher.

Witzig finde ich, dass es an Twitter ja auch immer viel Kritik gab, aber was ich überhaupt nicht lese: Wünsche, was bei Bluesky anders werden sollte oder könnte als bei Twitter – außer der Hoffnung, dass dieses genauso kommerzielle Unternehmen nicht auch von einem wie Musk zerstört wird.

Was müsste Mastodon tun, um attraktiver zu werden und um noch mehr vom Twitter-Exodus zu profitieren?

Ganz offensichtlich spielt UI/UX eine zentrale Rolle, also Usability, gewissermaßen die ‚Haptik‘ bei der Benutzung. Da würden eingefleischte Fediverse-Fans sagen: Es steht ja allen frei, alles kann angepasst werden, aber das ist der Mehrzahl der Nutzer*innen natürlich nicht mal eben so einfach möglich.

Tatsächlich wünschen sich viele, dass die Benutzung einfacher wird und da beißt sich die Katze ein bisschen in den Schwanz: Dann müsste es mehr Vorgaben und weniger Optionen geben, was natürlich immer mit sich bringt, dass es welche gibt, die andere Entscheidungen besser fänden.

Mastodon hat bewusst keine Algorithmen und nur eine rein chronologische Timeline. Für alle, die Social Media für mehr als das reine Geplauder in der kleinen eigenen Community benutzen, ist das ein Problem. Wenn ich nicht den ganzen Tag davor sitze, verpasse ich vermutlich viele wichtige Infos. Twitter hatte für viele auch den Zweck, sich über Nachrichten zu informieren, die nicht über den dpa-Ticker gelaufen sind: Internationale und Bewegungs-News, spezifische Themen. Über die Algorithmen konnte ich relativ sicher sein, dass ich relevante Entwicklungen auch mitkriege, wenn ich tagsüber arbeiten muss. Das fehlt mir persönlich am meisten.

Und dann sind da die ‚Erklärbären‘: Sehr, sehr häufig gibt es zu Posts bei Mastodon ungebetene Erklärungen, oft von oben herab, klassisches Mansplaining. Gern gemixt mit pseudo-ironischen Witzchen, doppelt und dreifach. Es fühlt sich manchmal an wie der IT-Altherren-Stammtisch. Ich weiß nicht, ob es inzwischen belastbare Zahlen gibt, aber alles deutet darauf hin, dass die große Mehrzahl der Nutzer*innen ältere weiße Männer mit IT-Hintergrund sind und mein Eindruck ist, dass Mastodon bzw der Teil des Fediverse, den ich erlebt habe, in die typische Abwärtsspirale gerutscht ist: Wenn eine Community zu homogen ist, ist das kein angenehmer Ort für alle anderen, von denen immer mehr lieber woanders hingehen. Da gegenzusteuern, ist nicht einfach und bräuchte eine sehr bewusste gemeinsame Anstrengung. (Wikipedia lächelt leise.) (*)

Allerdings stellt sich ja auch die Frage, ob Mastodon (wer wäre das eigentlich?) das überhaupt will. Mir haben jedenfalls immer wieder Leute erklärt, dass es ja eben explizit nicht das Ziel sei, Twitter zu ersetzen oder überhaupt ein Angebot für ‚Twitter-Flüchtlinge‘ zu sein.

Warum gehen die Leute nach den Erfahrungen mit Musk jetzt zur nächsten potenziell kommerziellen Plattform und nicht zur föderierten, nicht-kommerziellen Alternative?

Warum benutzen Leute Macs statt Linux? Weil es einfacher zu benutzen ist und ansprechender aussieht. Weil sie andere Themen haben im Leben und ihnen das einfach nicht so wichtig ist. Ich finde das bedauerlich, aber ich glaube, dass wir alle ständig solche Entscheidungen treffen und nicht immer sind die konsequent durchdacht. Was essen wir, wie reisen wir, was konsumieren wir – letztlich ist das dieselbe Frage.

Ich bin gespannt, ob der aktuelle Bluesky-Hype anhält und die neue Plattform hält, was sich viele von ihr versprechen. Ich glaube, die Karten werden nochmal neu gemischt, wenn die Invites wegfallen und sich bestimmte Dynamiken wiederholen, die es bei Twitter schon gab.

(*) Hierzu würde ich gern im Nachhinein noch ergänzen, dass ich natürlich weiß, dass es auch ganz andere Communities und Instanzen gibt. Wie Menschen die Kommunikation bei Mastodon erleben, ist extrem unterschiedlich. Ich beschreibe hier nur einen Ausschnitt, der mir allerdings immer wieder begegnet und der mir auch von vielen anderen beschrieben wurde.

Ein paar Gedanken zu Blockdebatten

(Dies schrieb ich zuerst bei Mastodon als Thread, aber die Dinge verschwinden dort so schnell, und wozu haben wir schließlich Blogs.)

(Disclaimer: Nichts davon ist neu, aber ich beobachte es gerade bei Mastodon.)

Vorweg: Ich finde Blocken völlig legitim und habe noch nie die Aufregung von manchen verstanden, wenn wer wen blockt, denn das bedeutet ja nichts, als dass mit der betreffenden Person nicht geredet werden will und nichts von ihr gelesen werden will – und das machen wir alle im Alltag sonst ja genauso. Also, uns auszusuchen, mit wem wir zu tun haben wollen.

Es gibt kein Recht auf Gehört-werden.

Ich selber blocke wenig, aber ich aus mir unklaren Gründen werde ich im Netz auch ziemlich in Ruhe gelassen. Ich weiß, dass ich damit sehr privilegiert bin und weiß auch, wie furchtbar es ist, im Netz attackiert zu werden. Wer das noch nicht erlebt hat, hat keine Ahnung, wirklich. Dazu kommt vielleicht, dass ich ganz gut entwickelte ‚innere Filter‘ habe, also Sachen, die nervig oder übergriffig sind, direkt ausblende und vergesse.

Darauf bin ich nicht stolz. Ich würde sagen, ich habe Glück, dass mir das gelingt. Wenn andere stattdessen blocken, hat das mein volles Verständnis. Und ich mute oder blocke auch, wenn mir was ausreichend auf die Nerven geht.

Wir sind hier alle aus unterschiedlichen Gründen. Manche wollen Reichweite, manche wollen mit anderen ins Gespräch kommen, manche wollen unter sich bleiben, manche wollen gesehen werden, manche nicht. Das ist alles völlig legitim und zum respektvollen Umgang gehört, das zu akzeptieren. (Zwingen könnt Ihr eh niemand.)

Was mich auf der anderen Seite seit jeher verwirrt, sind die sehr demonstrativen Diskussionen und Aufforderungen, andere zu blocken bis hin zu Kritik daran, wenn dem nicht gefolgt wird. Klar gibt es Gründe, bestimmte Gruppen durchaus großflächig zu blocken (Nazis, Incels, Springer-Redaktionen etc.pp.). Ob das für die irgendwas verändert – da habe ich meine Zweifel. Aber es macht das eigene Erleben angenehmer und das reicht ja als Motiv.

Ich finde nachvollziehbar, das zu machen und dabei können Blocklisten natürlich hilfreich sein. Für Leute, die massiv attackiert werden, sind die manchmal das einzige Mittel, das hilft, um den eigenen Account weiter benutzen zu können.

Aber was ich etwas schräg finde, sind Posts, in denen das Blocken einzelner Accounts zelebriert wird, was häufig wirkt wie „Seht, der war blöd, aber jetzt habe ich ihn geblockt“, wobei die betreffende Person dann eben nichts mehr dazu sagen kann. Wenn ich mit wem nicht mehr reden will, dann lasse ich es. Vielleicht rede ich mit ein paar Freund*innen darüber, was mich genervt hat. Aber das war’s dann auch.

Vor großem Publikum über andere zu reden, emotional und mit viel Vorwurf: Klar, könnt Ihr machen, aber bei mir hinterlässt das in der Regel ein unangenehmes Gefühl. Je größer der eigene Account, je mehr Mitlesende, desto vorsichtiger sollten wir mit sowas sein. Auch im eigenen Interesse, denn das wirkt (auf mich) befremdlich unsouverän.

Vielleicht verstehe ich das Motiv für dieses demonstrative Ausleben des eigenen Block-Verhaltens auch nicht richtig. Mag sein. Sicherlich ist es für einige der notwendige Austausch über das Erlebte in Peer-Groups und warum auch nicht, gerade wenn die blockierten Accounts sehr anstrengend, belästigend, übergriffig sind.

Wir haben hier alle Arten von Öffentlichkeiten gleichzeitig: von ganz klein bis ganz groß. Und das ist dann vielleicht der Unterschied zur analogen Kommunikation: Da rede ich entweder mit kleinen oder großen Gruppen, aber in der Regel nicht in einer gefühlt kleinen Gruppe vor großem Publikum. Und das ist ja, was hier passiert. Je größer der Account, je größer das Publikum, aber auch kleine Accounts können mit 2,3 Klicks von anderen mehr als sonst gesehen werden. Das ist auch alles nicht neu. Über andere reden, damit die das mitkriegen, ohne dass es zu offensichtlich ist, hat einen eigenen Begriff: ‚Non-Mention‘.

Ich werde sicher niemanden zu irgendwelchen Verhaltensweisen auffordern, wir sind alle mehr oder weniger erwachsene Menschen und haben hoffentlich gelernt, darüber nachzudenken, wie das eigene Kommunikationsverhalten auf andere wirkt.

Was ich eigentlich sagen wollte: Mit Reichweite geht Verantwortung einher. Das fängt bei wenigen Follower*innen an. Ja, wer groß ist, wird tendenziell mehr angegriffen, aber kriegt ja auch mehr Unterstützung. Wer alle Privilegien der Welt hat, sollte sich die Selbstdarstellung als Opfer für die ernsten Fälle aufheben.

Be excellent to each other.

 

Foto: La-Rel Easter (Unsplash)

Linke Schmerzen

Zwei Entenküken am Steinstrand, die beide denselben Zweig im Schnabel haben

(Dieser Text ist als Twitter– und Mastodon-Thread gestartet und ich habe ihn an die denkend geschrieben, die dort unterwegs sind. Manche politisch aktiv, viele auch nicht, also jenseits von Meinungen via Social Media. Ich freue mich über Diskussion und Kommentar, auch dort.)

Was mich immer wieder beschäftigt: Es fehlt eine Auseinandersetzung der gesamten gesellschaftlichen Linken mit dem Verhältnis zwischen Bewegungen und außerparlamentarischen Organisationen (‚Zivilgesellschaft‘) auf der einen und Parteien in Parlamenten auf der anderen Seite. Sind es politische Gegner*innen, weil auf der falschen Seite, oder zwei Teile der politischen Auseinandersetzung der Gesellschaft, die sich gegenseitig brauchen?

Spoiler: Wahrscheinlich wundert niemand, wenn ich mich als Anhängerin der 2. Option oute.

Was nicht heißt, dass sich alle innig gernhaben müssen. Überhaupt nicht. Im Gegenteil sogar, Kritik ist unbedingt notwendig, aus vielen Gründen.

  1. Wer im Parlament ständig in Realpolitik verwickelt ist, verliert leicht den Kompass. Das ist normal. Wir alle ändern in Diskussionen unsere Meinung, sonst wäre die Diskussion ja auch überflüssig. Wir nehmen etwas von der Sicht des Gegenübers an, mal mehr, mal weniger. Deswegen ist wichtig, dass Parlamentarier*innen (genauso) viel mit denen reden, die nicht in der Kompromissmaschine stecken.
  2. Eine deutlich wahrnehmbare Positionierung / Bewegung / Forderung außerhalb des Parlaments stärkt diejenigen, die drinnen ganz anderen Positionen und Mehrheiten gegenüberstehen. Weil sie eben nicht allein sind in ihrer Opposition.
  3. Demokratie heißt, dass politische Debatten von allen geführt werden. (Da haben wir gerade ein anderes ’spannendes‘ Thema, weil Social Media zeigen, dass wir nicht recht darauf vorbereitet sind, was es heißt, wenn wirklich alle mitdiskutieren und wie das aussehen müsste). Auch die parlamentarische Demokratie bedeutet nicht, dass Politik allein von den selbsterklärten Fachleuten im Parlament gemacht wird. Und übrigens auch nicht allein von und in Medien (und den fünf, die in jeder Talkshow sitzen). Gesellschaft sind alle.
  4. Politische Forderungen müssen auch überhaupt nicht im Auge haben, ob es realistisch ist, sie umzusetzen, weder jetzt noch später. Sie haben jede Berechtigung, weil es manchmal darum geht zu sagen, wie eine bessere Welt aussehen müsste. Progressiv, links, feministisch zu sein bedeutet, eine Gesellschaft zu wollen, die gerecht und frei von Unterdrückung ist und das ist dann eben eine Utopie. Und sie zeigt die Richtung, in die wir wollen. Über den Weg kann nicht genug diskutiert werden, aber das Ziel ist sicherlich nicht, wie das in Gesetz XY im Parlament genau geregelt wird.

Das allerdings ist der Job von Abgeordneten: zu versuchen, möglichst viel davon im Parlament rauszuholen.

In der Opposition ist das noch – relativ – einfach, wobei der Mix unterschiedlicher Forderungen auch nicht immer gut zusammenpasst. Leider hat nichts davon Aussicht umgesetzt zu werden, weil Anträge der Opposition eben immer abgelehnt werden. Das können wir laut oder leise beweinen und auch immer für (völlig berechtigte) Kritik an der Regierungsmehrheit benutzen, aber daran wird sich nichts ändern. Und ich habe dafür sogar Verständnis, denn wenn es anders wäre, wäre *jede* Regierungsentscheidung eine sehr lange Verhandlung. Die Kritik, dass ‚die Politik‘ nichts macht (weil es so lange dauert), wäre vorprogrammiert. Sehen wir schon bei Dreier-Koalitionen. Wenn das anders sein sollte, bräuchten wir ein anderes System parlamentarischer (?) Demokratie. Das wäre eine interessante Diskussion, auf jeden Fall, aber bislang sehe ich wenig davon. Weites Feld und aktuell auch schwierig, angesichts der rechtslastigen Großwetterlage.

Und damit wären wir bei der Beteiligung an Regierungskoalitionen, und wie das von außen gefunden wird.

Die einen lehnen es prinzipiell ab, weil immer sehr, sehr hässliche Kompromisse gemacht werden müssen. Völlig legitim. Niemand muss das machen wollen. Aber wer irgendwas ändern will, kommt um die Frage nicht drumrum, ob nicht doch die Gelegenheit genutzt werden sollte, wenn es sie mal gibt. Die Frage ist dann: Zu welchem Preis? Da sind klare rote Linien hilfreich, üblicherweise Bestandteil von Koalitionsverhandlungen. Es bleiben: Jede Menge Kompromisse. Die, siehe oben, von außen kritisiert werden können und müssen.

Was aus meiner Sicht fehlt: Mehr Diskussion darüber, wie ein sinnvolles Verhältnis von außerparlamentarisch zu parlamentarisch aussehen müsste. Sind die im Parlament „Die da oben, die über unsere Köpfe entscheiden“ (schwierig, andererseits verständlich) oder sind die ‚der parlamentarische Arm‘ von Bewegungen und NGOs?

Wie kann das aussehen, wenn die einen Geld, Macht, Möglichkeiten haben und die anderen nicht? Und wenn manchmal auch schwer zu erkennen ist, wer nur vom Sofa pöbelt und wer sich aktiv beteiligen will, nur eben nicht als Teil von Parteien. Was alles seine Berechtigung hat, aber vllt. unterschiedlich gewichtet wird. Progressive Parteien haben Menschen, deren Job es ist, den Kontakt zu Bewegungen, NGOs, Gewerkschaften zu suchen und zu halten. (Zuwenige.) Für alle, die (noch) nicht in etablierten Politikformen aktiv sind, ist das sicher nicht so leicht zu sehen. Andere lehnen den direkten Draht auch ab, auch das ist völlig legitim.

Meiner Meinung nach sollte es mehr Angebote zu solchen Kontakten geben und die, die es gibt, sollten mehr genutzt werden. Dazu gehört, dass gerade kleine Parteien/Fraktionen sehr reichlich zu tun haben, weil der Anspruch ja ist, überall inhaltlich präsent zu sein, wo die großen und Regierungen politisch unterwegs sind. Mit deutlich weniger Personal. Umgekehrt haben NGOs und Initiativen noch viel weniger Personal oder halt gar keins. Prioritäten, Baby, aber ja, wow.

Was – gerade unter Linken – leicht passiert: Angriffe untereinander (statt gegen die größeren Gegner) und Abkapselung. Und das ist der Punkt, über den mehr geredet werden sollte: Wie kann nötige Kritik aussehen, die solidarisch ist, und was ist nötig, damit sich die beiden Teile (parlamentarisch und außerparlamentarisch) als zwei Teile von einem Ganzen begreifen? In gegenseitiger Anerkennung der Unterschiede und Schwierigkeiten der jeweiligen Situation?

Die einen haben zu wenig Zeit und zu wenig Geld, die anderen sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit, Kritik, Konkurrenz. Und auch zu wenig Zeit.

Und wann wird die Reißleine gezogen? Wer entscheidet, dass es das nicht wert ist? Dass Parteien aus Koalitionen aussteigen, passiert nur sehr, sehr selten. Gefordert wird es oft. Darüber sollte mehr geredet werden: Was sind die Kriterien. Wie kann so eine Diskussion aussehen und wie kann verhindert werden, dass sich die verschiedenen beteiligten Seiten voneinander abkapseln. Und was müsste eigentlich vorher passieren, also bevor der Punkt erreicht ist, an dem es nicht mehr tragbar wird. Wer definiert, wann der erreicht ist? Wie gesagt: Immer in Anerkennung dessen, dass es gut und richtig ist, dass die einen in Parteien und Parlamenten sein wollen und die anderen nicht. (Ja, das schmerzt. Der Schmerz gehört dazu.)

Ein Anfang wäre, dass wir uns mehr darüber unterhalten, warum wir tun, was wir tun und wie das im Alltag aussieht. Auf Augenhöhe. Und dabei zulassen, uns gegenseitig zu kritisieren und zu erinnern, warum wir das mal angefangen haben. Und uns dabei gegenseitig zu unterstützen. Das Ziel müsste aus meiner Sicht eine Verständigung darüber sein, dass wir gemeinsam etwas Besseres erreichen wollen. Weil es unser Job ist, dafür zu sorgen, dass die Rechten nicht gewinnen. Auch, weil wir als Teil dieses Landes eine Verantwortung dafür haben, was das für alle anderen bedeutet.

 

 

Foto von Timothy Brown auf Unsplash

Wie alles anfing: Eine Stunde über Indymedia und Medienaktivismus

Nicht mehr ganz frisch: Im Juni gab es eine gute Stunde Podcast über die Geschichte von Indymedia und wie das alles anfing mit dem Web 2.0 und aktivistischen Online-Medien, inzwischen über 20 Jahre her.

Ich sprach mit Max Blum für den Podcast der BAG Netzpolitik:

Gespräch über Digitale Souveränität

Ich habe mich eine Stunde mit Herbert Gnauer für das Wiener Radio Orange 94.0 über Digitale Souveränität unterhalten und darüber, um wessen Souveränität es dabei geht und über die Kontroverse, ob dabei staatliche Souveränität gemeint ist oder individuelle.

Außerdem geht es um Verschlüsselung, richtige und falsche Software, digitale Identitäten, die Corona-Warn-App und sogar um Nachhaltigkeit.

Wer möchte, kann das Gespräch hier hören:

Digitale Souveränität – Anne Roth im Gespräch

Die nächste Demo nur mit Luca

Über die LucaApp kann man viel reden.

Ein Argument von Carmela Troncoso halte ich für bedenkenswert:
Erst wird die App in Bars und Konzerten eingesetzt. Super praktisch. Beim Einkauf.

Dann auch in Clubs. Bei Hochzeiten. In der Kirche. Moschee. Synagoge.

Bei Demos. Partys. In Vereinen und politischen Gruppen.

Fühlt sich das immer noch gut an, dass da eine technische Infrastruktur gebaut wird, die – wie jede technische Infrastruktur, die Daten sammelt – Begehrlichkeiten weckt?

Bei der all diese Kontaktdaten auf zentralen Servern liegen, zu denen später doch noch andere Zugang wollen. Wie jedesmal.
Die bessere Alternative ist eine App, die solche Daten nicht sammelt – und trotzdem andere warnt, die zum selben Zeitraum am selben Ort waren. Und die gibt es schon, sie hat nur weder Smudo noch „Anne Will“.

Die Software heißt CrowdNotifier, gibt’s seit letztem Herbst, komplett open source und dezentral. In der Schweiz gibt’s auch die App dazu, „NotifyMe“.
Wenn Steuergelder ausgegeben werden, dann doch besser dafür, dass diese App den deutschen Anforderungen angepasst wird.

Und das wichtigste: Die staatliche Corona-Verordnung muss geändert werden, damit die Orte, an denen Menschen zusammenkommen, nicht gezwungen werden, alle Kontaktdaten zu sammeln. Das ist die eigentliche Ursache des Problems – für das u.a. Luca die Lösung verspricht.

Gewarnt werden können die, die mit anderen an einem Ort waren, wie gesagt, trotzdem: Dazu können dezentrale Apps hilfreich sein.

Wenn nun aber, staatlich bezahlt, gefördert & gefordert, überall die Alternative ist: Entweder Luca – oder gar nicht: Was, denkt Ihr, wird passieren?

Dann werden alle in den Apfel beißen.

Jetzt ist der Moment, darüber zu reden, auch wenn es unbequem ist. Sonst sitzen wir sehr bald mit einer staatlichen Infrastruktur da, deren Nutzung überall die Bedingung für Teilnahme ist und die zentral nachvollziehbar macht, wer wann mit wem wo war.

Ausführlich und sehr gut erklärt übrigens auch im aktuellen Netzpolitik.org-Podcast, darin kommt auch Carmela Troncoso zu Wort und erwähnt dieses Problem.

 

Foto: Gabriele Lässer bei Unsplash

Corona? There’s an app for that!

Screenshot Corona-Warn-App: "Warnende Personen. Gestern 2.970. 7-Tage-Mittelwert 2040. Gesamt 291828. über die Corona-Warn-AppDie Corona-Warn-App wird zunehmend zum Flop erklärt und häufig wird im gleichen Aufwasch Datenschutz als Grund dafür identifiziert. Ich weiß nicht, in wievielen Talkshows, Interviews, Artikeln mir das mittlerweile begegnet ist. Egal, wie oft schon erklärt wurde, dass das nicht stimmt.

Stattdessen: Neue, shiny happy Apps! Ob Datenschutz tatsächlich das Problem ist, spielt keine Rolle. Genausowenig anscheinend die Frage, welche Probleme gelöst werden müssen und ob die jeweiligen Apps dazu tatsächlich geeignet sind. Dafür können die Entwickler*innen am wenigsten – dass sie versuchen, Lösungen für ganz spezifische Probleme zu finden, ist ja an sich nicht schlecht.

Dabei liegt der schlechte Ruf der Corona-Warn-App v.a. daran, dass es eine schlecht designte App ist (mit ursprünglich guter Idee), die zwar teuer war, aber kaum weiterentwickelt wurde. Von privaten Unternehmen, die damit absurd viel Geld verdienen. Dazu die konfuse Kommunikation, in der App und drumherum.

Das Versprechen, dass Apps das Corona-Problem lösen, kam nicht von den Leuten, die wenigstens dafür gesorgt haben, dass die Bundes-Corona-App sicher ist und sensible Gesundheitsdaten möglichst gut geschützt werden. Im Gegenteil ist von ihnen immer wieder zu hören, dass die Grundlagen für verantwortungsvolle Software-Entwicklung im Prinzip ‚Privacy by Design‘ liegt. Das bedeutet nichts anderes, als dass von Anfang an überlegt wird, welches Problem konkret gelöst werden soll und wie das möglichst datensparsam umgesetzt werden kann. Klingt einfach, fehlt leider oft.

Remember? Abstand, Hände waschen, Alltagsmasken – und die App! Dieses magische Heilsversprechen kam u.a. von Spahn, ziemlich von Anfang an. Apps können aber keine Pandemien wegzaubern, wenn das Gesundheitssystem zerbröselt und Bundesländer sich gegenseitig blockieren. Die Gesundheitsämter sind weiterhin zu schlecht ausgestattet und die Inzidenzwerte waren ja ursprünglich mal relevant geworden, weil sie anzeigen sollten, ab welcher Schwelle die Gesundheitsämter beim Nachverfolgen der Infektionsketten nicht mehr nachkämen.

Während jetzt also gerade ein Skandal dem nächsten folgt, soll uns die nächste App retten.

Merkt Ihr selbst.

Benutzt, was ihr wollt, aber ich werde sehr genau darauf achten, ob bekannt ist, wie die jeweilige App funktioniert, welche Daten wo gespeichert werden und wer darauf Zugriff hat.

Das ist einfach das Minimum, was von Apps geleistet werden muss, die sowohl Gesundheitsdaten verarbeiten als auch, wer wann mit wem wo war. Und wie oft. Es ist kein Hexenwerk, das zu dokumentieren, sondern das sind schlicht die Basics von IT-Sicherheit.

Schließlich wäre ja schon sehr blöd, wenn da hier und da Sicherheitslücken drin wären und all diese Daten plötzlich ganz woanders landen oder manipuliert würden. Shit happens. Und bis das alles fertig ist, komme ich mit Papier gut zurecht. Oder bleibe zuhause.

(So ähnlich vor 10 Tagen schon als Twitter-Thread zu den ersten Debatten über das Luca-Wunder, das von verschiedenen Landesdatenschutzbehörden empfohlen wurde, obwohl noch niemand den Code gesehen hatte. Hat seitdem nichts an Gültigkeit verloren.)

Auch noch lesenswert dazu: Luca ist leider auch keine Lösung von Eva Wolfangel (Zeit Online).

Und dieser Thread von Seda Gürses, der sich damit beschäftigt, worüber eigentlich diskutiert werden muss, wenn mal wieder nach technischen Lösungen für Probleme gesucht wird, die ganz woanders liegen:

Ein Jahr nach Beginn der Pandemie erleben wir in Deutschland eine extrem verflachte Debatte über Apps (z.B. #LucaApp oder #ImmunityPassports), die bei der Bekämpfung der Corona-Krise helfen sollen. Problem: Diese Form der Debatte ist nicht hilfreich. …“

Erfolge feiern können, am Beispiel der Corona-Warn-App

DP3T Proximity Tracng Process - ZeichnungDie Corona-Warn-App so, wie sie jetzt ist, ist das Ergebnis einer sehr harten politischen Auseinandersetzung über offene vs. geschlossene Technologie.

Die Bundesregierung wollte anfangs etwas ganz anderes. Jetzt erklärt sie begeistert, wie super das alles sei:

Dezentral, freiwillig, open source, transparenter Entwicklungsprozess.

Aber das ist nicht, was das Gesundheitsministerium (BMG) anfangs wollte. Es war ein Streit über Wochen, und währenddessen wurden alle, die was anderes wollten, als Datenschutz-Spinner dargestellt (Frauen kamen in den deutschen Debatten eh nicht vor).

Wir haben diesen Streit gewonnen und das ist gut so, hoffentlich auch für zukünftige IT-Projekte der Bundesregierung, aber so zu tun, als hätte sich die Bundesregierung das mit SAP/Telekom und irgendwelchen Start-Ups allein ausgedacht, ist Quatsch.

Mit ‚wir‘ meine ich keine spezielle Gruppe, Organisation, Fraktion – im Gegenteil gab es wohl überall reichlich Skepsis und Kritik, oft auch zurecht, oft aber auch pauschale Ablehnung einer technischen Lösung, ohne genauer hinzugucken -, sondern viele verschiedene Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund. Teile der „Netz-Community“, IT-Expert*innen, politisch aktive Menschen, aus vielen Ländern und auch Kontinenten.

Sicher auch einige innerhalb der Ministerien, sonst hätte es die Entscheidung so nicht gegeben.

Auch Apple und Google, und sicher haben wir nicht dieselben Interessen, deswegen muss weiter sehr genau geguckt werden, wie diese Public-Private Partnership weitergeht. Dazu gibt es gerade einen sehr guten Artikel von Michael Veale, selber Teil von DP3T, den ich sehr empfehle. Da geht es auch um die Frage, warum die Unternehmen mal wieder nicht durch Gesetze eingeschränkt werden, am Beispiel von Apple/Google und den Corona-Apps:

It is possible to be strongly in favour of a decentralised approach, as I am (as a co-developer of the open-source DP-3T system that Apple and Google adapted), while being seriously concerned about the centralised control of computing infrastructure these firms have amassed.

 

Wem wir nicht genug danken können: dem großen DP3T-Team rund um Carmela Troncoso, das, über viele Länder verteilt, das Problem früh erkannt und Tag und Nacht an einer technisch soliden Alternative gearbeitet hat, die zudem das Potential hatte, auch international genutzt zu werden, ohne Diktatoren Überwachungsinstrumente in die Hand zu geben. Und die dann 24/7 erklärt haben, was sie tun und wie ihr Vorschlag funktioniert: Ohne diese gut begründete dezentrale und vor allem vorzeigbare Lösung hätten sich die (deutschen) Unternehmen durchgesetzt, die von Anfang an am BMG klebten und alle anderen weggebissen haben.

Und es gibt immer noch genug zu kritisieren: keine gesetzliche Grundlage, die festschreibt, dass die App nicht morgen zu anderen Zwecken eingesetzt wird, dass niemand von Arbeitgeber*innen genötigt werden darf, sie zu benutzen, und dass nicht zusätzliche Funktionen auftauchen, die die Daten auswerten für irgendeinen Zweck. Wie so ein Gesetz aussehen könnte, hat eine sehr verschieden zusammengesetzte Gruppe im Mai aufgeschrieben, an der auch ich beteiligt war (pdf).

Dann die ganze Frage, warum überhaupt so ein Heilsversprechen an einer App hängt, statt die Pflegekräfte und alle anderen Leute in systemrelevanten Jobs besser zu bezahlen, viel mehr Personal einzustellen und die offensichtlichen Problem des Gesundheitssystem zu lösen, das ungebrochen weiterhin profitabel sein soll, bessere Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu schaffen, in denen sich weniger Leute anstecken und bessere Bedingungen für Eltern und Kinder und Schule und Online-Unterricht. Unterstützung für Lehrer*innen, die die alles  auffangen sollten, was in der Politik im Bereich Digitalisierung von Schule seit Jahren verschlafen wird: gleichzeitig technische Lösungen für Online-Unterricht finden, sich selbst Methoden dazu aneignen, Kindern ausgedruckte Materialien vorbereiten, in der Schule parallel mehreren kleinere Gruppen in verschiedenen Räumen unterrichten, mit verzweifelten und wütenden Eltern fertig werden. Ok, ich schweife ab, aber dass all diese Dinge bis jetzt kaum angegangen wurden, sagt natürlich viel über politische Prioritäten der Bundesregierung.

Zurück zur App: Ein weiteres Problem ist die Veränderung der Gesellschaft, die sich daran gewöhnt, dass Technik Probleme wie so eine Pandemie lösen (sollen). Dass digitale Kontakt-Verfolgung ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens wird, ohne das Zeit war, darüber zu diskutieren, ob wir das wollen und was die Nebenwirkungen und Weitenentwicklungn sein werden.

Jeanette Hofmann hat gerade sehr gut für die WZB-Mitteilungen (pdf) aufgeschrieben:

Infrastrukturen neigen zur Verstetigung und zur Expansion. Ein wichtiger Grund hierfür liegt in den kollektiven Handlungsmöglichkeiten, die sie eröffnen, und den praktischen Erfahrungen, die sich mit diesen verbinden. Infrastrukturen dehnen den Raum des gesellschaftlich Plan- und Regelbaren aus. Sie nähren die Erwartung einer grundsätzlichen Kontrollierbarkeit auch von Ereignissen oder Prozessen, die zuvor als unverfügbare Zufälle akzeptiert wurden. Die Schlüsselerfahrung technischer Kontrolle, die sich wahrscheinlich nicht wieder aus der Welt schaffen lässt, liegt im Konzept der Distanzvermessung: Die Erfassung des räumlichen Abstands zwischen allen Menschen weltweit, die mit einem Smartphone ausgerüstet sind, birgt das Potenzial einer neuen Metrik. Die digitale Distanzvermessung lässt sich als im Entstehen begriffenes Kontrollinstrument verstehen, das noch auf der Suche nach seiner Nützlichkeit ist.
(S.35, Hervorhebung von mir)

Das scheint mir aktuell das größere Problem und nicht mögliche Gefahren von Überwachung, IT-Sicherheit, Falschmeldungen etc., die häufig als Vorbehalte geäußert werden, aber mit der App, die wir haben, sehr weitgehend minimiert wurden. Es hätte sehr viel schlimmer kommen können.

Und darum geht es mir hier: Hier hat sich was Gutes durchgesetzt und nicht von allein, sondern weil sich viele großartige Leute dafür eingesetzt haben. Im Rahmen dessen, was möglich war, ist sehr viel erreicht worden, denn die Option ‚Keine App‘ wäre in den gegebenen Bedingungen zu Anfang der Pandemie nicht drin gewesen.

Den Erfolg sollten wir Spahn und seinem Ministerium nicht schenken, und SAP/Telekom auch nicht, denn wenn es nach denen gegangen wäre, hätten wir keine transparent, open source und kollaborativ entwickelte App.

 

PS: Es gibt natürlich zur App noch unendlich viel mehr zu sagen. Kann die durch Wände tracen? Was passiert nach dem Test? Was ist mit den Leuten mit alten Smartphones oder keinen Smartphones oder in oder aus anderen Ländern? Und die Geheimdienste? Da lässt sich problemlos ein halbes Buch drüber schreiben und das alles steht ja auch schon in zig Texten. Ich rede auch gern drüber, wenn noch Bedarf ist.

(Ein kürzere Version dieses Textes habe ich vor ein paar Tagen als Thread bei Twitter aufgeschrieben.)

 

Grafiken: CC-BY-SA 4.0 by DP-3T