Innenminister Friedrich möchte wieder Grenzkontrollen in der EU

Wer erinnert sich noch an die Einführung des Schengener Abkommens? Gegen Ende meines Studiums habe ich mir die ‚Freude‘ gegönnt, es mal zu lesen. (Beschlossen wurde es ’85, dazu kam ’90 das sog. Durchführungsübereinkommen, und ’95 wurde das Schengener Abkommen in Kraft gesetzt).

Im Grunde ist es banal: Ziel des Schengener Abkommens war (und ist), die innereuropäischen Grenzkontrollen abzubauen (Europa hier = EU). Feine Sache, an sich.

Aaaaaaber.. dann können sich ja die gefährlichen Ausländer (je Land andere) völlig frei bewegen, das geht ja nicht. Der Kriminalität wären Tür und Tor geöffnet. Deswegen mussten die Ausgleichsmaßnahmen her, im Durchführungsübereinkommen beschrieben.

Der Teil des Schengener Abkommens, der den Abbau der Kontrollen und mehr Freizügigkeit beschreibt, ist weniger als eine Seite lang. Die Ausgleichsmaßnahmen brauchten, wenn ich mich richtig erinnere, in der damaligen Fassung ca. 30 Seiten.

Die EU-Website fasst es ganz übersichtlich zusammen:

Zu den wesentlichen Maßnahmen, die im Rahmen von Schengen beschlossen wurden, gehören:

  • die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen;
  • ein gemeinsames Regelwerk für Personen, die die Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten überschreiten;
  • die Angleichung der Einreisebedingungen und der Visa-Bestimmungen für Kurzaufenthalte;
  • die Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit (einschließlich eines grenzüberschreitenden Beschattungs- und Verfolgungsrechts);
  • die Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit durch eine Regelung für eine raschere Auslieferung und durch die Übertragung der Vollstreckung von Strafurteilen;
  • die Einrichtung und Entwicklung des Schengener Informationssystems (SIS).

Allgemeinverständlich bedeutet das, dass zum Ausgleich die Polizeikooperation, Überwachung und Kontrolle massiv ausgebaut wurden, außerdem wurden die Außengrenzen enorm verstärkt. Frontex ist ein Ergebnis davon, genauso wie die zu hunderten im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge, für die wir die Verantwortung gern anderen überlassen. Und ganz reale Mauern.

Ende letzter Woche kroch eine kleine Meldung durch die Nachrichten:

Innenminister der EU einigen sich auf Notfall-Grenzkontrollen  Das gab es bisher immer mal an bestimmten Grenzen, etwa wenn große Gipfelproteste zu erwarten waren oder auch bei Sportereignissen. Aber nicht dauerhaft. Jetzt

soll ein „Notfallmechanismus“ eingeführt werden, wonach einzelne Mitgliedstaaten als „letzten Ausweg“ ihre Grenzen dichtmachen können, falls ein anderer EU-Staat seine Außengrenzen nicht verlässlich kontrolliert. Diese Maßnahme sollen Mitgliedsstaaten maximal zwei Jahren anwenden können. (Süddeutsche)

Entweder wird der Grund für mehr Kontrolle und Überwachung – der Abbau der Grenzkontrollen – nicht mehr gebraucht, weil die Innenminister meinen, das Ausmaß an Überwachung wäre ausreichend – unwahrscheinlich. Oder aber sie denken, dass sich an den ursprünglich vorgeschobenen Grund inzwischen eh niemand mehr erinnert und sie deswegen die polizeilich ausgesprochen nützlichen Kontrollen an jeder Grenze jetzt deswegen wieder einführen können.

Anlass sind übrigens die vielen Flüchtlinge aus Nordafrika während des Arabischen Frühlings. Demokratie gern, aber bitte nicht hier!

Bei EU-Themen wird gern vermittelt, dass sie irgendwie in einem undurchschaubaren Dschungel entstehen. In aller Regel, und auch diesmal, spielt Deutschland im EU-Dschungel die entscheidende Rolle: EU-Länder lassen Brüssel eiskalt abblitzen

Ein Meilenstein der europäischen Integration hat am Donnerstag leichte Risse bekommen. Unter dem Eindruck anschwellender Flüchtlingsströme brachten die EU-Innenminister in Luxemburg ihre umstrittene Neufassung des Schengen-Abkommens auf den Weg: Dem Entwurf nach dürften die Mitgliedstaaten weiter eigenmächtig über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen entscheiden und sich künftig auch bei löchrigen EU-Außengrenzen notfalls abschotten. Die EU-Kommission ist brüskiert, das Europäische Parlament empört – und Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hochzufrieden.

„Wenn die Sicherheit in Europa insgesamt in Gefahr ist, sind wir handlungsfähig“, sagte der CSU-Politiker nach dem Treffen mit seinen Ressortkollegen.

Die Rhetorik kennen wir ja zur Genüge.

Grafik: Wikipedia

Lieber Afrikaner

Bei Extra 3 gab es gerade den neuen Film von Alexander Lehmann über afrikanische Flüchtlinge, Frontex und die ‚Festung Europa‘:

Europa. Freiheit, Frieden und Solidarität.

Seit vielen Jahren verbreiten wir Europäer Freiheit, Frieden, Wohlstand und Freude in Afrika. Höchste Zeit, dass dies den Afrikanern mal in einem verständlichen Image Film erklärt wird.

Idea, script, Animation: http://www.alexanderlehmann.net
Voice, recording: http://www.ewsiemon.de
Music: Ludwig van Beethoven
(eingespielt von der US Navy Band, gemeinfrei)

Mehr Infos / Belege:

„Festung Europa: Krieg gegen Flüchtlinge“ Fernsehbeitrag vom SWR:
(Alternativer Link (kurze Version) )
Zeit.de „Willkommen in Europa“:
Zeit.de „Kinderknast von Lesbos“

Zur Nachahmung empfohlen: Abschiebung verhindert

Gestern waren mehrere AktivistInnen unterwegs nach Bamako, Mali. Eigentlich. Sie wollen an der „Karawane für Bewegungsfreiheit und selbstbestimmte Entwicklung“ zum Weltsozialforum Anfang Februar in Dakar teilnehmen. Aber es kam ganz anders: ausgerechnet in ihrem Flug von Paris saß ein gefesselter und von Polizei begleiteter Mann, der nach Mali abgeschoben werden sollte. Sie haben sich nicht hingesetzt, um den Abflug der Maschine zu verhindern:

Der Pilot drehte um und ließ AktivistInnen und weitere Passagiere festnehmen. Irgendwann gestern nacht waren alle wieder frei. Die Abschiebung fand nicht statt.

Jetzt bitten sie um Spenden, um die etwa 4000 Euro für neue Tickets bezahlen zu können, und es würde mich nicht wundern, wenn noch Anwaltskosten dazukämen: Weiterlesen

Sarrazins Zahlen sind falsch

Falls Ihr gelegentlich hilflos vor dem Argument stecken bleibt, der alte Mann mit dem typisch deutschen Namen habe doch aber recht: Hier ist das Gegenmittel! Nehmt es in Eure Bookmarks an prominenter Stelle und es wird Euch geholfen.

In der Berliner Zeitung, die offenbar den DuMont-Schock überwunden hat und mit guten Artikeln versucht, dem Zeitungssterben auszuweichen, erschien heute Nachgerechnet, ein Bericht über eine Studie zu Sarrazins Zahlen.  Das Forschungsprojekt „Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle (HEYMAT)“ (großartiger Name!), unter der Leitung von Naika Foroutan, hat kurz vor Weihnachten eine Studie veröffentlicht, die die Zahlen auseinandernimmt.

Sarrazin durfte neulich in der FAZ behaupten „Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten.

Das stimmt nicht. Die Politologin Naika Foroutan, die an der Berliner Humboldt-Universität das Forschungsprojekt „Hybride Identitäten in Deutschland“ leitet, hat schon im September in einer Fernsehdebatte mit Sarrazin dessen Statistiken und Fakten in Frage gestellt.

Im Artikel geht es um gemachte Schulabschlüsse, Bildungsaufstieg, Kopftücher, ums Heiraten (wer wen) und um Gewalt. Zur angeblich hohen Gewalt junger Migranten schrieb Naika Foroutan einen Brief an den Berliner Polizeipräsidenten. Aus der Antwort:

8,7 Prozent der Gewaltkriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik wurden im Jahr 2009 von Tatverdächtigen begangen, die entweder türkischer Nationalität oder dem arabischen Raum zuzuordnen waren. Erweitert man die Personengruppe um die Personen, deren Nationalität als ,unbekannt‘ oder ,keine Angaben‘ erfasst wurden, was zumindest häufig für eine Herkunft aus dem arabischen Raum sprechen kann, erhöht sich die Zahl der Fälle auf 2509, was dem Anteil von 13,3 Prozenten an allen Fällen der Gewaltkriminalität entspricht.

Die ganze Studie als PDF:

Naika Foroutan (Hrsg.), Korinna Schäfer, Coskun Canan, Benjamin Schwarze: Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand (1,6mb)