Von den meisten unbemerkt findet gerade das Ratifizierungsverfahren des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages statt (nach dreimal laut Vorlesen konnte ich es auswendig sagen). Kurz JMStV. Ein Staatsvertrag ist in Deutschland ein Vertrag, der von den MinisterpräsidentInnen der Bundesländer ausgehandelt und dann von den Länderparlamenten ratifiziert wird. Er soll im Januar in Kraft treten und wird gerade in den Ländern abgestimmt.
Mit einem beliebten billigen Trick wird hier ein Gesetz (das ist es dann nämlich) durchgepaukt: Unter dem Vorwand, angeblich Schwache vor dem Bösen zu beschützen (siehe Kinderpornografie & Internet-Sperren, unterdrückte Frauen & Taliban in Afghanistan etc.) wird gerade eine – stark vereinfacht – neue Form der Zensur eingeführt. Zu den Details steht unten mehr. Die Bundesländer, die noch abstimmen müssen sind:
vsl. 7./8. Dezember: Saarland (Anhörung am 02. Dezember)
vsl. 9. Dezember: Berlin
vsl. 14.-16. Dezember: Bayern, Brandenburg
vsl. 14.-17. Dezember: Sachsen, Schleswig-Holstein
vsl. 15.-16. Dezember: Nordrhein-Westfalen
15. Dezember: Mecklenburg-Vorpommern
(recherchiert von J.-O. Schäfers für Netzpolitik.org)
Es sind also mehr oder weniger alle Parteien involviert, da wir es hier mit allen möglichen Konstellationen zu tun haben. Letzte Woche gab es einen Offenen Brief an die SPD in Nordrhein-Westfalen (rot-grüne Regierung mit Tolerierung durch die Linke). Als ich gefragt wurde, ob ich mitunterschreibe, wollte ich mehr wissen, habe ich das Kuddelmuddel der Parteieninteressen gefürchtet, habe ich zu lange gezögert.Zum Glück gab es viele andere.
Heute habe ich einen Offenen Brief an die Abgeordneten in Berlin mit unterzeichnet (s.u.) mit der Aufforderung, die geplante Zustimmung zu verweigern. Der hat weniger Unterschriften, weil es noch schneller gehen musste. Die SPD ist für den Vertrag, Grüne in NRW und Linke in Berlin winden sich in Schmerzen im Koalitionszwang. Können aber nicht Nein sagen.
In Berlin wird der Senat das Thema morgen früh nochmal auf dem Tisch haben. Beide Regierungsfraktionen wollen eigentlich zustimmen. Und haben noch eine bzw. zwei Fraktionssitzungen vor der Abstimmung am 9.12.
Wenn der Vertrag gilt, müssen alle, die in Netz veröffentlichen, selbst kennzeichnen, ob ihr Content jugendfrei ist oder nicht. Eltern (Lehrerinnen, PädagogInnen) wird nahegelegt, Filtersoftware für das gekennzeichnete Material einzusetzen. Wer falsch kennzeichnet, kriegt Ärger. Provider müssen die Software anbieten. (SEHR grob).
Und wer legt fest, was tatsächlich jugendfrei ist? Wer legt fest, wer tatsächlich Ärger wg. falsche Kennzeichnung kriegt? Und was wird aus den Kindern, die kein Kondom mehr online sehen dürfen? Von angeblichen Verfassungsfeinden ganz zu schweigen. Die Antworten liegen auf der Hand. Ach ja: nicht jugendfreies Material soll dann nur noch abends zu sehen sein. Was das im Netz bedeutet, konnte mir noch niemand erklären.
Es gibt natürlich handfeste ökonomische Interessen, dazu brauchen wir gar keine Verschwörungstheorie zu bemühen:
Alvar Freude (AK Zensur): Die Telekom, die „Satansweiber von Tittfield“ und ein Interessenkonflikt
Und deutlichen Ärger. Thomas Knüwer (Indiskretion Ehrensache): Deutschlands Parteien: unwählbar – eine Wutrede. Sehr schön geschimpft, zum Fazit gibt es aber einigen Widerspruch.
Fakten, Fakten, Fakten: 17 Fragen zum neuen JMStV
Der Brief an die Berliner Abgeordneten und Senatsmitglieder, der eigentlich ein Anschreiben ist zum NRW-Brief, der dazu gehört:
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin,
sehr geehrte Mitglieder des Senats von Berlin,voraussichtlich am 9. Dezember 2010 werden Sie über den sogenannten 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrag im Berliner Abgeordnetenhaus abstimmen. Dieser hat eine Änderung des Jugendmedienschutzstaatsvertrages zum Ziel.
Der intraföderale Staatsvertrag, dessen Neufassung momentan zur Abstimmung steht, basiert auf Ideen, die sich bei den „klassischen“ Medien bewährt haben. Altersklassifikationen, die sich bei statischen Medien wie Kinofilmen oder Computerspielen durchgesetzt haben, lassen sich jedoch nicht einfach auf das Internet übertragen. Sie hinterlassen im Gegenteil gravierende Lücken für den Jugendschutz und behindern durch verschärfte Vorschriften gleichzeitig alle, die im Internet aktiv sind.
Wir wenden uns mit dem angehängten offenen Brief an Sie, als gewählte Vertreterinnen und Vertreter aller Menschen in unserer Stadt. Wir rufen Sie als Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf, die Problembeschreibungen und Argumente in dem ebenfalls angehängten Brief, der von über fünfzig Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, der „Netzgemeinschaft“ sowie Juristen, Journalisten und Netz-Künstlern unterschrieben wurde, in ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen und der geplanten Änderung des Jugendmedienschutzstaatsvertrages nicht zuzustimmen.
Mit den besten Grüßen
- Markus Beckedahl, Chefredakteur von netzpolitik.org und Mitglied der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages
- Bov Bjerg, Autor
- Daniel Domscheit-Berg, ehemaliger Sprecher von Wikileaks
- Johnny Haeusler, Gründer von Spreeblick.com
- Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC) und Mitglied der Enquete- Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages
- Thomas Langkabel, Mitglied Government 2.0 Netzwerk, Blogger, Plattform opendataberlin
- Anne Roth, Bloggerin, annalist.noblogs.org
- Christian Scholz, Unternehmer, Web-Entwickler, politisch aktiver Blogger und Podcaster und Mitglied beim „Dialog Internet“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
- Henning Tillmann, Mitglied des Gesprächskreises „Netzpolitik und Digitale Gesellschaft“ des SPD-Parteivorstands, Initiator des offenen Briefs an SPD-Landtagsfraktion in NRW
- Karsten Wenzlaff, Social Media Manager im vorwärts Verlag, Gründer des Instituts für Kommunikation in sozialen Medien
Update:
- Jens Best, Publizist, Fotograf, Social Media Experte
- Die Mädchenmannschaft, das Blogger_innenteam von maedchenmannschaft.net
- Philip Banse, Journalist
- Christian Bahls, 1. Vorsitzender MOGiS e.V. — Eine Stimme für Betroffene
- Rena Tangens, FoeBuD e.V. und BigBrotherAwards
- Teresa Bücker, Autorin, Mitglied des Gesprächskreises „Netzpolitik und Digitale Gesellschaft“ des SPD-Parteivorstands
- Sebastian Sooth, Projektmanager und Berater, Mitinitiator atoms&bits
- Stephen Kovats, Künstlerischer Leiter der transmediale, Festival für Kunst und digitale Kultur Berlin
Weitere Informationen rund um die Novelle des JMStV finden Sie unter folgenden Links:
Stellungnahme von Alvar Freude, Anhörung im Landtag Nordrhein-Westfalen
http://ak-zensur.de/download/Stellungnahme–Alvar-Freude–JMStV–2010-11-02.pdfStellungnahme des Dresdner Instituts für Medien, Bildung und Beratung, Anhörung im Landtag Nordrhein-Westfalen
http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST15-76.pdfStellungnahme von Jürgen Ertelt, Anhörung im Landtag Schleswig-Holstein
http://paedware.de/stellungnahme_ertelt_jmstv_ltsh_031110.pdfJMStV Factsheet
http://www.henning-tillmann.de/2010/10/behauptungen-fakten-zum-entwurf-des-jugendmedienschutz-staatsvertrags-jmstv/Was bringt der neue JMStV?
http://www.telemedicus.info/article/1694-Was-bringt-der-neue-JMStV.htmlDer JMStV im Internet: Pflichten und Folgen
http://politik.benjamin-stoecker.de/2010/11/08/der-jmstv-im-internet-eine-ausfuhrliche-darlegung-der-pflichten-und-folgen/Brief vom AK Zensur an die Ministerpräsidenten der Länder mit Anlagen
http://ak-zensur.de/download/JMStV-Brief–komplett.pdfDie JMStV-Novelle: Eine technische Betrachtung
http://achim-mueller.org/images/jmstv_piraten.pdfBrief an die SPD NRW
http://ak-zensur.de/2010/11/spd-nrw-brief.html
Es ist 5 vor 12. Noch.
Internetsperren? Wo?
Soweit ich es verstanden habe, führt die Nichtkennzeichnung einer Seite dazu, dass diese FSK 18 bewertet wird. ggf. kann es auch so sein, dass man eine Kennzeichnung anbringen muss, damit die Filtersoftware sie erkennt. Hier kann doch der Schritt für jeden vernunftbegabten Menschen nur lauten, Seiten grundsätzlich unter FSK 18 laufen zu lassen. Sobald beispielsweise Wikipedia FSK 18 ist, dürfte der Schwachsinn dieser Regelung den meisten klar werden.
Das Problem ist hier das nahelegen von Filtersoftware, soweit ich weiß wird kein Veröffentlichungsverbot angestrebt.
Ich stimme zwar völlig damit überein das dieses Gesetz in höchstem Maße schwachsinnig, unnütz und destruktiv ist. Aber Internetsperren kann ich nicht erkennen. Diesen finden allenfalls dann statt, wenn die Filtersoftware existiert und Eltern diese installieren. Ihren Kindern das Internet zensieren können Eltern allerdings jetzt schon, dies wird nur einfacher.
Ja. Hab ein schlechtes Gewissen, weil ich Dir aus Zeitmangel nicht mehr geantwortet habe. Tut mir leid.
Bei CARTA gibt es noch eine ganze Reihe Artikel dazu, jeweils mit vielen Links (zur Vertiefung, auch die Kommentare sind interessant bis kontrovers).
@horst
Bitte mal hier nachlesenca und ‚Netzsperren‘ suchen.
Jap. Aber dann ist die Regelung trotzdem in Kraft.
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In diesem Sinne findet eine E-Mail-Aktion Berlin statt, die in den letzten verbleibenden 9 Tagen versuchen soll, noch einmal auf die Abgeordneten einzuwirken.
Auf zu Aktion „Berlin fragt nach!“
lg Martin
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Ja klar, Jens Best. Der ist doch wohl der Inbegriff der Kennzeichnungspflicht. Wer hat den denn um einen Unterschrift gebeten?
Das macht den Brief ein wenig lächerlich.
Ich war mal auf der Website von dieser FSK-Stelle. Abgesehen davon, dass der Begriff von „Sendezeiten“ auf ein weltweites Medium natürlich nicht anwendbar ist, gibt es die Software zum Erstellen von Filterkennzeichnungen noch gar nicht. Man hat sich auch auf noch keinen Standard geeinigt. Den Standard will man mit den üblichen Behörden und Lobbyisten in Deutschland abstimmen. Ich bin natürlich gegen diesen Quatsch, aber hier wird wiederum die Beschränktheit der politischen Denke deutlich: wenn schon einen Standard, dann bitteschön einen, der weltweit harmonisiert ist! Nicht für jedes Land der Welt einen eigenen! Arghhh!