Letzte Woche ist ein Kinderschänder festgenommen worden. Auf dem Klo einer Grundschule im Wedding (Berlin) war ein Mädchen Opfer einer sexuellen Gewalttat geworden. Das weckt Ängste. Erst wurde die Tat bekannt, kurz darauf Details, einen Tag und viel Aufregung später wurde bekanntgegeben, dass der Täter festgenommen worden sei.
Beim Lesen der Artikel dazu fallen ein paar Sachen auf.
Die Fahnder „waren durch die Auswertung von Handydaten einer Mobilfunkzelle in der Nähe der Schule auf den Mann gekommen„, schreibt die Berliner Zeitung dezent. Funkzellenabfrage? Vorratsdaten? Es bleibt ein bisschen unklar und fällt im Text auch kaum auf. Die Morgenpost ist deutlicher:
Handydaten bringen Polizei auf die Spur des Tatverdächtigen
… Auf die Spur des Verdächtigen kamen die Ermittler durch eine Funkzellenüberwachung. Dabei stellten die Beamten fest, dass das Handy des Verdächtigen während der Tatzeit in der Funkzelle des Tatorts nahe der Humboldthain-Grundschule an der Grenzstraße aktiv war. …
Kaum wer wird sich trauen, die Polizei für die erfolgreiche Anwendung der Funkzellenabfrage zu kritisieren, wenn es um sexuelle Gewalt gegen kleine Mädchen geht. Und damit haben wir es mit einem beliebten Muster beim Abbau von Grund- und Bürgerrechten zu tun. Wenn es um den Schutz von Frauen und Kindern geht, geht mehr als sonst. Wir erinnern uns an das schon fast vergessene letzte Horrorszenario vor dem Terrorismus, die Organisierte Kriminalität. Da mussten wehrlose Opfer des Frauenhandels geschützt werden. Oder die Bundeswehr-Einsätze am Hindukusch: die armen Frauen in Afghanistan. Wenn der Beschützer-Instinkt ins Spiel kommt, ist einfach viel mehr möglich.
Vor einem Jahr wurde zum ersten Mal die Anwendung der Funkzellenabfrage öffentlich diskutiert und es war ein ordentlicher Skandal. Betroffen waren halb Dresden, außerdem AnwältInnen, JournalistInnen und sonstige GeheimnisträgerInnen. Alle Medien berichteten. Als es in Berlin um Auto-Brandstifter ging, hielt die öffentliche Aufregung bis zur nächsten Innenausschuss-Sitzung, aber schon die Ergebnisse interessierten kaum noch wen.
Mit dem aktuellen Fall ist die Anwendung akzeptiert, kaum wer kann sich dazu kritische Nachfragen erlauben. Politiker, die an ihrer Karriere hängen, schon gar nicht.
Dabei wäre schon interessant zu erfahren, warum ein Vorfall, der am 1. März passiert, vier Wochen später in die Medien kommt und es natürlich zu einem ziemlichen Aufruhr kommt. Effekt: das Mädchen, das gerade wieder anfing in die Schule zu gehen, bleibt wieder zuhause, um den Fernsehkameras vor der Schule zu entgehen. Weiterer Effekt: eine aufgeregte berlin-weite Diskussion über Sicherheit an Grundschulen.
Der Missbrauch in der Grundschule im sozial schwachen Stadtteil Wedding war erst am Donnerstag bekannt geworden. Bis dahin hatten Polizei und Staatsanwaltschaft aus ermittlungstaktischen Gründen geschwiegen. (KStA: Handy-Daten überführten Sextäter)
Ach so? Und was wären das für „ermittlungstaktische Gründe“?
Gut gefallen hat mir die Reaktion des Landeselternausschusses (LEA): die haben nämlich auf die Frage, ob nicht vielleicht überall Videokameras an den Schulen installiert werden sollten, besonnen reagiert:
Verschärfte Sicherheitsmaßnahmen seien aber auch problematisch, so Samani. „Auf der anderen Seite ist es auch nicht so schön für Kinder, wenn sie jeden Morgen in einen Hochsicherheitstrakt gehen.“ Das Geld solle lieber in Kurse investiert werden, in denen die Schüler lernten, wie sie sich in bedrohlichen Situationen verhalten und wie sie Hilfe holen könnten. Auf diese Weise könnten sich die Kinder auch auf dem Weg zur Schule besser selbst schützen. (KStA)
An der Grundschule meiner Kinder gab es auch Eltern, die verschlossene Tore und, mal wieder, Videokameras wollten. Gleichzeitig ist bekannt, dass die Tore immer offen stehen, weil die Schule kein Geld für die Reparaturen der kaputten Schlösser und keine LehrerInnen für die nötige zusätzliche Aufsicht hat.
Der Bezirk Mitte finanziert alle Sicherungsmaßnahmen. Dazu gehören laut Bezirksbürgermeister Christian Hanke (SPD) neue Schließanlagen sowie weitere „Investitionen zur Gefahrenabwehr“, die von der Schule inzwischen beantragt wurden. Hanke: „In einem solchen Fall schauen wir nicht aufs Geld.“ (Tagesspiegel)
Interessant auf jeden Fall. Abgesehen davon, ob das nun tatsächlich sinnvoll ist – und da neige ich eher zur Meinung des LEA – wüsste ich echt gern, ob das für alle Grundschulen gilt? Oder erst ‚hinterher‘?
Welchen Zweck Videokameras haben, erschließt sich mir jedenfalls auch hier nicht. Wenn deren Bilder ausgewertet sind, ist die Tat ja längst geschehen. Im Weddinger Fall hätten sie überhaupt nicht geholfen: da war der Täter sogar von Lehrern gesehen worden. Gelöst wurde das Ganze so:
Konstantinos M. ist der Polizei als Straftäter bekannt. Allerdings nicht wegen Vergewaltigung und Missbrauchs. Gegen ihn sei wegen exhibitionistischer Handlungen ermittelt worden. Das Verfahren gegen den damals noch nicht Volljährigen sei aber eingestellt worden, sagte ein Sprecher der Polizei. In der zentralen Datenbank des Bundeskriminalamtes als Sexualstraftäter sei er nicht registriert.
Die Ermittler des Landeskriminalamtes waren auf den Mann aufmerksam geworden, als sie die Handydaten einer Mobilfunkzelle, die sich in der Nähe der Schule befindet, vom Tattag auswerteten. Der Tatverdacht erhärtete sich, als die Fahnder danach die Listen ehemaliger Schüler der Weddinger Grundschule überprüften. (Frankfurter Rundschau)
Ich bin keine Kriminalistin, aber warum wäre das nicht auch möglich gewesen, wenn die Daten der ehemaligen Schüler daraufhin überprüft worden wären, ob es eine Relation zu sowas wie Exhibitionismus gab? Klar, Funkzellendaten sind bequemer, aber auch da ahne ich einigen Aufwand, um die mit den Daten der ehemaligen Schüler plus Exhibitionismus etc. abzugleichen. Dafür wären aber nicht alle anderen WeddingerInnen derselben Funkzelle potentiell verdächtig geworden.
Neinein, sagt die Berliner Staatsanwaltschaft. Funkzellenabfrage muss sein :
Dieses Instrument sei „ein wesentlicher Aspekt“ bei den Ermittlungen gewesen, so Steltner. Der Fahndungserfolg zeige, wie wichtig die FZA sein könne, um schwere Straftaten aufzuklären. (taz)
Meiner Ansicht nach müsste der Verdächtige wegen Verfahrensfehlern freigesprochen werden (in den USA wäre das evtl. auch so). RA Vetter schreibt, dass die Exhibitionismus-Daten gar nicht existieren dürften. http://www.lawblog.de/index.php/archives/2012/04/03/in-den-tiefen-der-polizeicomputer/
Die Exhibitionismus-Ermittlungen wurden z.B. von der FR nur als Nebenaspekt dargestellt. Wer weiß, wie’s wirklich war? Vielleicht hat die Polizei ja so ermittelt, wie Sie vorschlagen (Ex-Schüler = Ortskundige + Sexualdelikte), und nachher noch irgendwelche Handydaten befragt, weil sie den Exhibitionismus-Treffer nicht verwerten durften?
Man kann getrost davon ausgehen, dass diese Funkzellen-Ermittlungserfolg-Story eine Konstruktion (um nicht zu sagen: Propagandalüge) ist, mit der auf Kosten des Opfers, des Täters (oder Verdächtigen) und der Öffentlichkeit Law-and-Order-Politik gemacht werden soll.
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Das Wort „Kinderschänder“ sollte allerdings in emanzipatorischen Kontexten nicht verwendet werden. Denn es sagt letztlich, dass die Kinder nach der ihnen angetanen Tat in Schande leben. Und an ihm hängt der unangenehme Beigeschmack von Lynchmob und extremer Rechter mit der Forderung nach „Todesstrafe für Kinderschänder“.
@ted s. #2: word.
@jan
@ted s.
Ich hatte angenommen, dass aus Kontext (v.a. dem Titel) und generell dem Tenor meiner Blogposts klar gewesen wäre, dass das ironisch gemeint war. Sorry, wenn das nicht deutlich würde. Natürlich geht ‚Kinderschänder‘ überhaupt nicht.
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