Geert Lovink & Pit Schultz: Jugendjahre der Netzkritik

Die deutsche Blogosphäre vermittelt gelegentlich den Eindruck, sie habe das Netz erfunden und sei überhaupt das Zentrum der Welt. Wer sich eines besseren belehren lassen möchte und die Theorie nicht scheut, kann jetzt bei Geert Lovink und Pit Schultz nachlesen, was vorher war.

Das Institute of Network Cultures hat in der Reine „Theory on Demand“ das Print-on-Demand-Heft „Jugendjahre der Netzkritik. Essays zu Web 1.0 (1995 – 1997)“ (pdf) herausgebracht.

Ein klein bisschen aufwendiger hätte es sein dürfen – ein klickbares Inhaltsverzeichnis würde das lesen online z.B. echt bequemer gestalten -, aber wir wollen ja nicht pingelig sein. Dass es eher um Grundsätzliches als um Oberflächlichkeiten geht, kennzeichnet diesen Flügel der Netz-BewohnerInnen deutlich.

Der letzte Text im Band, geschrieben 2009, nähert sich der Gegenwart und beschreibt die Aufgaben für kritische Geister:

Die Demokratisierung des Netzes hat ihr Ende erreicht, und ohne eine Klassenanalyse ist sie nicht mehr zu verstehen. Die Positionierung der verschiedenen Plattformen der sozialen Netzwerke gegeneinander (Facebook vs. MySpace) geht über eine Zielgruppenanalyse hinaus.

Ethnische Minderheiten, Klassenunterschiede und Einkommensunterschiede führen zu einer neuen Stratifzierung des Masseninternets. Der Wiki-Kritiker Jaron Lanier spricht von „Digitalem Maoismus“, wenn er sich voller Abscheu vom Produktionseifer der Amateure abwendet. Der gebürtige Franzose und leidliche Komponist und Erfinder des Datenhelms übersieht dabei, dass Wikipedia mehr mit klassischer Aufklärung französischer Prägung (Diderot und d’Alembert) zu tun hat, also einem bürgerlichen Projekt, das sich gegen den Klerus und den König richtete, als mit der blutigen Kulturrevolution Mao Tse Tungs in China.

Die Unfähigkeit der Kreise der Digerati, mit dem digitalen Jihad umzugehen, dem Trash der Unterklasse, dem Rechtspopulismus, dem derben und anarchischen Humor, ist offensichtlich. Wie soll man auf die lustigen Hasskampagnen von Shocklogs wie Geen Stijl, das zynische Spektakel von Big Brothers knallharter Variante Golden Cage reagieren? Die Antwort bleibt aus. Noch ist der Weltbürgerkrieg der Kulturen im Netz nicht ausgebrochen. Es herrscht ein schwelender Rassismus und Extremismus, Polizei, die sich in Flamewars einmischt. Datingsites, Glücksspiele, Parties, Pornos, Sekten und Kleinradikalismen aller Art formen eine Zone der working class esthetics. Die Entwertung der Cyberwerte findet nicht nur über verbotene Onlinespiele, sondern auch über Online-Examen für Einwanderer statt. (2009)

Der Klappentext:

Dieses PDF / Print-on-Demand-Heft bringt eine Auswahl der Texte zusammen, in denen  die Medientheoretiker und nettime-Gründer Pit Schultz und Geert Lovink zwischen 1995 und 1997 gemeinsam die Grundzüge des Konzepts der Netzkritik formulierten. Damals auf deutsch in verstreuten Publikationen erschienen und zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geraten, werden sie nun erstmals gesammelt veröffentlicht. Sie eröffnen einen Blick auf die frühe Phase der Entwicklung des Internets und die beginnende kritische Debatte, die durch eine besondere Diskussions- und Spekulationsfreude geprägt war. Das Internet stellte noch keine allgegenwärtige Realität dar, aber sein zukünftiges Potential war schon absehbar. Im Zentrum dieser Texte steht die Kritik der damaligen Cyberutopien, die die Grundlage für die spätere Dotcom-Manie schafften. Weitere Schwerpunkte sind die Kunstpraxis (net.art), die Deutsche Medientheorie und Gegenöffentlichkeit (taktischen Medien).

Der niederländisch-australische Netzkritiker Geert Lovink ist Autor von Dark Fiber und Zero Comments (beide auf Deutsch erschienen). Seit 2004 leitet er das Institut für Netzkultur an der Hochschule Amsterdam (HvA), ist Associate Professor Mediastudies an der Universität Amsterdam (UvA) und Professor an der European Graduate School.

Pit Schultz ist Autor, Künstler, Programmierer und Radiomacher und lebt in Berlin. Er ist Mitinitiator, Organisator und Mitglied von vielen Projekten wie Botschaft e.V., nettime, Bootlab, backyardradio, Reboot FM und Herbstradio.

Der Weg zum gedruckten Exemplar führt über diesen Link http://networkcultures.org/wpmu/theoryondemand/

Was ich ehrlich gestanden nicht verstehe, ist die Lizenz. Ist das nicht widersprüchlich?

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2 Gedanken zu „Geert Lovink & Pit Schultz: Jugendjahre der Netzkritik

  1. Lovink ist immer eine Lektüre wert, weil er den richtigen Ton zwischen Aktivismus, Kritik und Selbstkritik trifft. Ich empfehle zudem seine Antrittsvorlesung zu den „Principles of Notworking“ von 2005. Außerdem: Zero Comments, als Buch bei transcript auf Deutsch erschienen.

  2. IANAL, aber die beiden Lizenzbedingungen widersprechen sich tatsächlich. Es sei denn, damit wären explizit einzelne Artikel als „derivative work“ gemeint, was aber so nicht dasteht. Als Programmierer hätte man diesen „Mutex“ eigentlich bemerken müssen.
    Ob 1995 tatsächlich nicht schon ein wenig spät für die Frühzeit des Netzes ist, halte ich zudem für fraglich. Da schimmert irgendwo genau der kritisierte Standpunkt, man befinde sich im Mittelpunkt der Welt, durch. Geschenkt, bekanntermassen ist jeder der Mittelpunt seiner Welt, egal wie angestregt er auch über den Tellerrand blinzelt. Nichtsdemzutrotz gibt es allerhand -kritische und retrospektive- Literatur, die weit früher ansetzt und sich nicht so weit aus dem Fenster lehnt, was die Definitionshoheit angeht.

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