Was Wikipedia von Indymedia lernen könnte

Der Wikimedia e.V. hat gestern abend in Berlin eine Diskussion organisiert, die viel Staub aufgewirbelt hat. Auslöser ist ein Streit um die Löschpraxis, um die Wikipedia-Kriterien dafür, was als relevant betrachtet wird und um den Umgang mit Kritik daran. Teilnehmen durfte nur, wer angemeldet war – nach Aussagen von Henriette Fiebig (Wikimedia) haben sich aber nicht mehr als die 42 Personen angemeldet, die dann auch kommen konnten.

Die Diskussion wurde per Video-Stream übertragen (der allerdings phasenweise nicht funktionierte) und wurde von einem Chat begleitet.

Ich bin hingegangen und habe mich in der Diskussion auch zu Wort gemeldet, weil mir vieles aus dieser Diskussion ungeheuer bekannt vorkommt. Bevor es Wikipedia gab, bevor es Blogs gab, bevor es überhaupt interaktive Websites gab, bevor die Medien begannen, darum zu betteln, dass Material auf ihre Websites geladen werden solle, gab es Indymedia. Indymedia begann in Deutschland 2001 als erstes Projekt mit einer Website, die zuließ, dass irgendwelche UserInnen von irgendwo anonym Texte, Bilder, Videos auf die Seite luden. Ich habe Indymedia in Deutschland mitgegründet und jahrelang daran mitgearbeitet.

Die Idee war nicht, ein digitales Linksaußen-Käseblatt zu betreiben, sondern hatte mit dem Ideal "Gegenöffentlichkeit" zu tun. Wenn ’normale‘ Medien wirtschaftlich betrieben werden müssen, können sie nicht Perspektiven enthalten, die diesen wirtschaftlichen Interessen widersprechen. Oder jedenfalls nicht in einem Ausmaß, wie es der Wahrnehmung der meisten Menschen entspricht. Also ist notwendig, dieser anderen Wahrnehmung einen Platz und eine Ausdrucksmögichkeit zu verschaffen. Es gibt keine eine objektive Wahrheit, deswegen wurde die Kommentar-Funktion erfunden: so können verschiedene Berichte derselben Situation nebeneinanderstehen, die jeweils ihre Berechtigung haben und die LeserInnen können sich selbst ein Bild machen. Das war die Idee.

Dass Indymedia heute so irrelevant und von dieser Idee so weit entfernt ist, wie es ist, hat mit einer Entwicklung zu tun, die enorme Parallelen zu dem hat, was über Wikipedia erzählt wird.

Darüber habe ich gestern geredet, was u.a. von Fefe (die Vokabel ‚Blockwarte‘ ist nicht von mir, übrigens 😉 ), Jürgen Fenn (Schneeschmelze) und Netzpolitik aufgegriffen wurde. Martin Haase (maha) hat nachts in der Radiosendung des CCC in Darmstadt, C-Radar, über die Veranstaltung geredet und meinen Beitrag kurz erwähnt. Ich fand mich missinterpretiert, habe das getwittert und wurde prompt – nachts um halb zwei – eingeladen, noch anzurufen und das richtigzustellen. Das habe ich dann etwa 20 Minuten lang gemacht:

http://noblogs.org/flash/mp3player/mp3player.swf
(mp3, 18mb)

Die ganze Sendung: http://c-radar.de/archiv/c-radar/2009/11/c-radar_091105.mp3  (118mb)

Worum es mir ging:

  • Beides sind arbeitsintensive Projekte, die von Freiwilligen betrieben werden (oder fast, bei Wikipedia), erfolgreich sind und viel Kritik kriegen
  • Beide haben etwas völlig Neues aufgebaut mit dem Anspruch, transparent, hierarchiefrei, partizipativ und (basis-)demokratisch zu sein. Entscheidungen und Regelfindung sind langwierig. Gleichzeitig sollen sie ständig Neuen vermittelt werden.
  • Es gibt viele KritikerInnen, aber zuwenige, die aktiv mitarbeiten – sowohl an der Administration als auch an der Produktion von (gutem) Content
  • Die AdministratorInnen stecken in der Zwickmühle, ob sie transparent arbeiten, erklären und miteinbeziehen, oder ob sie ihre "eigentliche" Arbeit erledigen: administrieren, aber auch schreiben (bei Indymedia auch: filmen, fotografieren)
  • Das führt dazu, dass sie zunehmend abweisender reagieren, Fehler rhetorisch zukleistern und sich damit in eine Machtposition hineinmanövrieren, die von anderen mit starker Ablehnung quittiert wird
  • AdministratorInnen und andere verlassen das Projekt und weniger Neue kommen dazu
  • Die Qualität nimmt ab
  • Die Kritik nimmt zu
  • Die Gruppe derer, die bleiben, wird immer homogener (junge, weiße, deutsche Männer mit guter Ausbildung und viel technischem Wissen) – und war schon von Anfang an nicht wirklich repräsentativ für die ganze Bevölkerung
  • Das wirkt sich sowohl auf den Inhalt aus (Was ist relevant? Welche Texte werden geschrieben?) als auch auf die Fähigkeit, Neue anzuziehen
  • Die vielen KritikerInnen lassen ihrer Frustration freien Lauf und das Image des Projekts leidet
  • Die AdministratorInnen versuchen mühsam, die Arbeit weiter zu bewältigen, den Kopf irgendwie über Wasser zu halten und beißen rücksichtlos alle weg, die sie bei der Arbeit stören
  • Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es (scheinbar?) keinen Weg mehr zurück gibt.

Interessant fand ich, was ich gestern abend zum ersten Mal hörte: beide Projekte sind Teil eines internationalen Netzwerks und gehen darin einen Sonderweg, sind also anders als die anderen (Indymedias & Wikipedias). Ich wage keine These, warum das so ist und ob es einen Zusammenhang zu den jeweiligen Krisen gibt. Krisen bei partizipativen Netzprojekten gibt es ja auch anderswo. Aber ich fände interessant, das zu untersuchen.

10 Gedanken zu „Was Wikipedia von Indymedia lernen könnte

  1. Ein interessanter Vergleich, doch Wikipedia und Indymedia unterscheiden sich in wesentlichen Punkten.

    Oberstes Prinzip bei Wikipedia ist die Kollaboration, bei Indymedia hingegen werden Artikel weitgehend unverändert veröffentlicht.

    Die Idee, Wikistress abzubauen ist ein guter Ansatz. Die Schleusen ganz weit aufzumachen oder die Wikipedia in sich selbst zu forken würde IMHO aber das Gegenteil bewirken – wenn jeder seine kleine Ecke hat, muss man sich nicht mehr um das Ganze kümmern – es wird sogar abgestraft. Nachher würden nur noch Artikel in dem „irrelevanten“ Teil der Wikipedia abgeladen und keiner kümmert sich mehr darum, die Artikel auf ein gewisses Niveau zu heben. In der englischen Wikipedia kann man das schon besichtigen: Boxen mit konkreten Verbesserungswünschen hängen über Jahre in den Artikeln.

    Stattdessen wären Überarbeitungen in der Usability und die Stärkung der Redaktionen notwendig. Es gab schon viele Ansätze, das Erstellen von Artikeln zu vereinfachen – man gibt Name, Geburtsdatum und zwei Sätze ein – und schon hat man einen formal korrekten Stub, der auch gut aussieht. Wenn dann noch ein erfahrener Wikipedia-Autor direkt auf Knopfdruck erreichbar ist, um Neulinge zu beraten, dann würden sich beide Seiten nicht so schnell feindlich gegenüberstehen.

  2. Indymedia war sicherlich ein riesen Schritt vorwärts für den Bürgerjournalismus, aber zu behaupten, dass es die erste Seite mit user generated content gewesen wäre ist dann doch etwas viel. User generated content ist so alt wie das Netz selbst.

  3. Danke, ein sehr interesanter und konstruktiver Vergleich. Als Ausweg sehe ich nur stärke Professionalisierung der Administration, vor allem durch bessere Streitschlichtungsmechanismen. Wikimedia Deutschland ist hier deutlich gefordert, kann aber leider offenkundig nicht über den eigenen Schatten springen.

    Einen Punkt aus der imposanten Kausalkette möchte ich herausgreifen:

    # Die Qualität nimmt ab
    # Die Kritik nimmt zu

    Diese Kauslität kann ich eigentlich für Wikipedia so nicht sehen. Die Kritik nimmt eher zu, weil die Zielefüllung des eigentlichen Ziels „Enzyklopädie“ (und damit die Qualität) zunimmt und wichtiger wird und daher die Zugangshürden inhaltlich und technisch immer höher werden. Bei fast allen der frustrierten Kritiker ist zu hören, dass ihnen mal ein Artikel gelöscht wurde, und zwar fast immer irgendetwas sehr randständiges oder selbstdarstellerisches. Ein anderer häufig genannter Punkt sind die fiktiven Personen aus Fernsehserien. Was ist damit gewonnen, wenn es für jede Simpson-Figur einen eigenen Artikel gibt und nicht wie in der de.wikipedia einen Sammelartikel? Inhaltlich überhaupt nichts, in Sachen Benutzerfreundlichkeit auch nichts, dennoch habe ich das jetzt schon 100 mal gehört als Beispiel für „Zensur“. Das ist für mich vor allem ein PR-Defizit.

    In manchen Ecken der Wikipedia mag die Quantität sporadisch durch das Löschen des ein oder anderen Artikels abnehmen (wenn auch sehr kurzfristig) und damit auch die Qualität aus Sicht einiger User, aber die Qualität des Gesamtsprojekts? Das sehe ich wirklich nicht.

    Es ist auch wohlfeil, die Relevanz von allem und jedem zu propagieren, aber die Wikipedia operiert nicht wie Indymedia in quasi-rechtsfreien Räumen, sondern ganz bewusst im Rahmen des geltenden Urheberrechts und Datenschutzrechts. Dazu kommt noch der möglichst neutrale Standpunkt Da ist das alles nicht ganz so einfach wie es sich viele von außen reichlich naiv vorstellen.

  4. Das Indymedia heute nicht ein zentrales Medium ist, hat sicher mit der fehlenden Technischen Weiterentwicklung zu tun.

    Kommerzielle Firmen wie YouTube oder Flickr können viel einfacher und schneller umfangreiche Neuerungen einbauen.

    Der Grund für die fehlende Weiterentwicklung von Indymedia, liegt aber nicht in der Moderation oder den fehlenden Ideen.

    Indymedia hatte seit 2003 global mit Umfangreichen Repressionen zu kämpfen.
    – Mehrere Server wurden beschlagnahmt
    – Indymedia Domains von Internet Providern gesperrt (Türkei)
    – Gezielte Angriffe gegen die selbst entwickelten Web-Anwendungen, DoS etc.

    Diese Vorkommnisse haben das Netzwerk gelähmt und eine Weiterentwicklung verhindert. Es fehlte schlicht an Zeit.

    Damit ist das Interesse an Indymedia deutlich zurück gegangen, weil kommerzielle Anbieter alles hübscher und einfacher machen.

    Es gibt natürlich noch weitere Gründe.

    Allen Leuten die hier an der Wikipedia Diskussion teilnehmen, kann ich nur ans Herz legen, sich an der Moderation von Wikipedia oder andere Seiten zu beteiligen.

    So ein Realitätsabgleich eröffnet ganz andere Perspektiven.

  5. Der Berliner Verfassungsschutz will mal wieder erklären was Linksextremismus ist (Siehe Website).
    Da es schon Jahre her ist dass man wahrscheinlich vergleichbaren Blödsinn von den Schlapphüten lesen konnte wirds kaum spannender werden. Es geht um wie immer gewaltbereite Linke, also um uns alle. Das beste dabei ist der angekündigte ewige Vergleich von Links und Rechts. Das kann bei Claudia Schmid und ihrer tollen Truppe nur auf eine Gleichsetzung hinauslaufen. Immerhin hat sie dazu ihre Politologen bei landesweit bekannten Extremismusforschern angeworben. Keine Ahnung ob die Vorstellung dieser „Studie“ in der Öffentlichkeit stattfinden wird. Wenn ja: Kommt zahlreich und zeigt den Schlapphüten wie willkommen ihr immer gleicher Müll ist.

  6. Es ist klar dass Wikkipedia eine vollkommen andere Ausrichtung hat als Indymedia oder Altermedia. Die letzteren sind das Sprachrohr der jeweiligen Netzwerke rechts und links aussen vom main stream während Wikkipedia im Grunde ein main stream Medium ist dass im Geiste der zeit ein wenig linkslastig ist.

    man kann es nicht vergleichen da Wikkipedia ein Projekt öffentlichen Interesses ist ( Nachschlagwerk)während Indymedia und Altermedia Projekte geschlossener Gruppen sind.

    Wikkipedia ist evolutionär Indymedia und Altermedia Revolutionär im Sinne gegen das etablierte System gerichtet sind deshalb sind beide natürlich einem gewissen Druck ausgesetzt.

  7. Es ist klar dass Wikkipedia eine vollkommen andere Ausrichtung hat als Indymedia oder Altermedia. Die letzteren sind das Sprachrohr der jeweiligen Netzwerke rechts und links aussen vom main stream während Wikkipedia im Grunde ein main stream Medium ist dass im Geiste der zeit ein wenig linkslastig ist.

    Man kann es nicht vergleichen da Wikkipedia ein Projekt öffentlichen Interesses ist ( Nachschlagewerk)während Indymedia und Altermedia Projekte geschlossener Gruppen sind.

    Wikkipedia ist evolutionär Indymedia und Altermedia Revolutionär im Sinne gegen das etablierte System gerichtet, es sind deshalb beide natürlich einem gewissen Druck ausgesetzt.

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