Journalistische Maßstäbe

schreibmaschine800-Marvin Siefke_pixelio.deAm Samstagabend eskalierte nach einer Demo zur Unterstützung der Menschen in der Schule in der Ohlauer Straße eine Situation in der Nähe des Görlitzer Parks in Berlin-Kreuzberg. Davon gibt es ein Video, das bei YouTube (nur mit Anmeldung) bisher knapp 400.000 Mal gesehen wurde.

Zu sehen ist eine brutale Festnahme. Der Anlass ist nicht erkennbar. Anfangs gibt es kaum Publikum, aber es kommen immer mehr Menschen dazu und die Situation wirkt ziemlich unübersichtlich, für alle Anwesenden.

Zu dem Video gibt es im Text die Aufforderung, diese Dokumentation von Polizeigewalt zu verbreiten. Das ist offenbar so reichlich passiert, dass sich die Polizei genötigt sah, am Sonntag und am Montag Pressemitteilungen zu dem Vorfall zu veröffentlichen.

Entsprechend gibt es inzwischen diverse Berichte in den Medien. Und als ich die las, habe ich mich gefragt, wo die Autor_innen eigentlich ihre journalistischen Standards vergessen haben, die uns Blogger_innen regelmäßig unter die Nase gerieben werden. Sowohl Spiegel Online – im Panorama? -, als auch Berliner Zeitung und der Tagesspiegel beschreiben zwar die Perspektive der Polizei, haben aber keinerlei Information über die Sicht der anderen Seite der Auseinandersetzung. Der Berliner Zeitung könnte noch zugute gehalten werden, dass der Text als Kommentar veröffentlicht wurde. Konjunktiv wird eher spärlich eingesetzt: was die Polizei sagt, stimmt. Der Tagesspiegel zitiert immerhin mit ganzen fünf Worten die Macher_innen des Videos, aber dafür zusätzlich zum Polizei-Pressesprecher auch gleich noch die Landesbezirksvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Einseitig? Aber nicht doch!
(Falls es noch weitere entsprechende Berichte zu diesem Fall gibt: gern in die Kommentare)

Das ist nichts Neues. Eigentlich ist es der Regelfall: das habe ich beim G8-Gipfel als Teil des Presseteams der Proteste in Heiligendamm ausführlichst erlebt, es wurde bei den Protesten Anfang des Jahres in Hamburg anlässlich der angedrohten Flora-Räumung detailliert auseinandergedröselt und kritisiert und ist eigentlich nur selten anders: berichtet wird, was die Polizei-Pressestelle behauptet.

Was lernen diese Leute eigentlich auf den vielgepriesenen Journalist_innen-Schulen? Unter anderem doch wohl, dass der echte, der Qualitätsjournalismus sich u.a. deswegen von den Blogs und subjektivem „Bürgerjournalismus“ unterscheidet, weil immer verschiedene Seiten gehört werden, niemals nur eine Seite dargestellt wird.

Und warum gilt das nicht, wenn die Polizei involviert ist? Warum gilt das nicht, wenn in einer Auseinandersetzung offensichtlich viel Gewalt im Spiel ist und schließlich gegen drei Menschen „wegen gefährlicher Körperverletzung, versuchter Gefangenenbefreiung und schweren Landfriedensbruchs ermittelt“ wird? Das sind schließlich keine Lappalien, sondern Vorwürfe, die möglicherweise mit Gefängnisstrafen enden. Und im übrigen die Statistiken über linke Gewalt füllen.

Natürlich sind diejenigen Beteiligten, die nicht bei der Polizei sind, nicht so einfach zu finden – gerade nicht bei solchen Vorwürfen und wenn sie möglicherweise traumatisiert sind nach der Prügelei. Vermutlich haben sie keine Pressestelle und verschicken nicht am nächsten Tag eine Pressemitteilung.

Aber bitte schön: das ist in Berlin-Kreuzberg kein Einzelfall. In Berlin wie in anderen Städten auch gibt es einen Ermittlungsausschuss, der sich seit Jahrzehnten um die rechtliche Betreuung von Menschen kümmert, die mit der Polizei aneinandergeraten. Die Nummer ist kein Geheimnis. Zu linksextrem, unglaubwürdig? (Auch schon gelesen). Aber die Polizei lügt nie, oder wie? Auch die politischen Kampagnen, um die herum solche Fälle häufig geschehen, sind in der Regel auffindbar und ansprechbar. Vielleicht nicht so komfortabel wie die Polizei, aber das kann ja wohl kein Grund sein, dann eben nur die eine Seite darzustellen. Jedenfalls nicht für Leute, die sich für Journalist_innen halten. Solche Berichte sind ein Grund, warum das Beharren, richtiger Journalismus sei wichtig und unersetzlich, zuweilen nicht besonders ernst genommen wird.

Wann fangen die Journalist_innenschulen an, ihren Auszubildenden beizubringen, wo und wie zu politischen und sozialen Bewegungen recherchiert wird und dass es da häufig Menschen gibt, die durchaus bereit sind, ihre Sicht der Dinge darzustellen? Das ist keine Zauberei.

Bild: Marvin Siefke  / pixelio.de

21 Gedanken zu „Journalistische Maßstäbe

  1. Zu den von dir angesprochenen Schlampigkeiten mit der unhinterfragten Polizeiversion kommt noch, dass der Tenor in vielen sozialen Medien war „na wenn der sich widersetzt und seinen Ausweis nicht zeigen will?!?..“

    Es gibt in D aber _keine_ Pflicht einen Ausweis bei sich zu führen, geschweige denn diesen dann PolizistInnen zu zeigen! https://de.wikipedia.org/wiki/Ausweispflicht#Nationale_Regelungen_f.C3.BCr_Staatsb.C3.BCrger

    Warum man sich also von der Weigerung den Ausweis gezeigt zu kommen als Polizeibeamte nach absolvierter mehrjähriger Ausbildung derart provoziert fühlt, dass einem nichts anderes mehr einfällt als einen Einzelnen mit mehreren KollegInnen zu Boden zu klatschen und dort mit Schlägen zu traktieren, ist wohl eher ein Fall für ein psychologisches Gutachten.

    Schade dass auch diese Fragen nach der (selbstverschuldeten/gewollten?) Eskalation der Ereignisse nie gestellt werden…..

      • Ausweispflicht (einen besitzen, notfalls vorzeigen können, z.B. zuhause) bedeutet aber eben nicht Mitführpflicht (immer dabei haben). Wo habe ich die Ausweispflicht bestritten?

        Der Beamte im Video (bei Vimeo leider mittlerweile offline) sagte ja nicht „ich will ihre Identität feststellen! Ihren Namen bitte“ sondern sowas wie „Ausweis her! Ausweis her!!!“
        Das ist eben ein kleiner Unterschied, auch wenn es im Ergebnis in 90% der Fälle auf das gleiche hinauslaufen mag.

        Ob man jemandem zum Zwecke der IDF dann auf dem Boden fixieren muss, inkl. Bein um einen Poller gedreht, ist ja gerade der springende Punkt, von wegen Verhältnismäßigkeit, Eskalation usw.

    • Aus dem angegebenen Wikipedia-Artikel:
      „Für alle anderen Ausländer, die in die Bundesrepublik einreisen oder sich im Bundesgebiet aufhalten, besteht nach § 3 des Aufenthaltsgesetzes eine Passpflicht.“

      Für die Polizisten war doch nicht ersichtlich, welche Staatsangehörigkeit der junge Mann mit der Clownsnase hatte.

  2. Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich bin so erschrocken von 1. der Berichterstattung und 2. der Rechtfertigung dieser Gewalt seitens einiger Mitbürger in beliebigen Internetforen. Man muss beide Seiten zu Wort kommen lassen. Zudem hat meine eigene Erfahrung oft gezeigt, dass so ein Polzeibericht oftmals dem Wahrheitsgehalt von Russia Today entspricht und ich falle persönlich nicht unter die Klischees von linken Zecken oder Autonomen die allein aufgrund ihres äußeren (betroffene werden das bestätigen können) von der Polizei anders behandelt werden.

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  4. „Und warum gilt das nicht, wenn die Polizei involviert ist?“

    Ja, warum? Wirklich nur, weil es in der Ausbildung für die Pressearbeit nicht vorkommt?

  5. In meinem Studium Onlinejournalismus „headdesked“te ich besonders hart, als junge JournalistInnnen die Lehrbuchauffassung vertraten:

    „Die Quelle ist ein Bundesministerium. Das gilt als priviligierte Quelle. Das muss ich nicht mehr gegenprüfen.“

    Sorgfalt im Journalismus muss in diesem Punkt dringend neu definiert werden.

  6. Aber das Problem der objektiven Berichterstattung fängt doch schon bei dem Video an.
    Alle haben es unreflektiert geteilt.
    Ich war auch entsetzt, als ich es gesehen habe. Ich habe es mir mindestens 10x angeschaut, um die Situation beurteilen zu können, und habe das Video NICHT geteilt, da offensichtlich war, daß der Hersteller oder die Herstellerin es sehr geschickt geschnitten hat.
    Zum ersten hat er oder sie mit dem Filmen garantiert nicht erst bei der Frage „Ausweis her“ begonnen, denn er konnte nicht ahnen, wie es weitergeht, d.h. den Anfang aus dem Park hat er oder sie – aus welchem Grund auch immer – weggeschnitten.
    Später fehlen auch immer wieder Bilder. Warum? Warum hat der Filmer oder die Filmerin die ganze Szene nicht durchlaufen lassen.
    Warum wird die endgültige Verhaftung nicht gezeigt?
    Wurde der junge Mann auf beiden Beinen stehend abgeführt, oder war er so verletzt, daß ein Krankenwagen kommen mußte?
    Je öfter ich mir die Szene und auch die ganzen Personen am Rande angeschaut habe, desto mißtrauischer wurde ich wegen der weggeschnittenen Bilder.
    Seltsam finde ich übrigens auch, daß nicht andere Filme über die Szene aufgetaucht sind. Man sieht im Film viele Leute mit den Handys filmen. Kein Film aus anderer Perspektive wurde veröffentlicht.
    So ist das mit der Wahrheitsfindung sehr schwierig!

  7. Das ist tatsächlich ein riesiges Problem. Als Journalist, der eine dieser Journalistenschulen besucht hat, beschäftigt es mich schon lange. Die Zwei-Quellen-Regel ist der absolute Grundstock, den man bereits lernt, bevor man auch nur ein Wort getippt hat. Vielleicht sollte man sie in „Verschiedene-Quellen-Regel“ umbenennen, denn gerade in Sachen Polizei ist immer festzustellen, dass viele Kollegen unter „zwei Quellen“ einfach zwei Personen verstehen: den Polizeipräsidenten und den Pressesprecher, den GdP-Chef und den Innenminister. Andererseits ist die Nicht-Erreichbarkeit vor allem linker Gruppen aber auch ein echtes Problem. Als Pressekontakt findet man meist nur eine Mail-Adresse. Dann wird in ewigen Plena darüber beraten, ob man dem Journalisten Auskunft gibt. Im besten Fall gibt es ein ominöses Presse-Handy, an dem man, mit viel Glück, dann eine namenlose Person erwischt. Im Tageszeitungsgeschäft geht das leider nicht, da muss ich meine Quellen so schnell wie möglich erwischen. Wenn linke Gruppen ihre Pressearbeit professionalisieren würden (am wichtigsten: erreichbare Telefonnummer!!!), wäre sicher auch öfters mal eine andere Sicht zu lesen.

    • Das „zwei“ nicht zwangsläufig „zwei verschiedene“ sind, kannte ich noch nicht – das ist Schlamperei und nicht nachgedacht, oder bewusstes anders Umgehen mit der Polizei?

      Die Nichterreichbarkeit von Bewegungen, Aktivist_innen, Kampagnen: klar, ist ein Problem. Aber das liegt ja in der Natur der Sache: sie sind oft nicht gut organisiert, haben keine professionelle Pressearbeit und dazu häufig große Skepsis der Presse gegenüber, die sie oft in die Pfanne haut. Sicher zuweilen auch die Fehleinschätzung, ähnlich wie andere Leute, die PR machen, dass jeder Bericht, der nicht 1:1 ihrer Vorstellung entspricht, quasi ein Verrat an der guten Sache ist. Aber genau deswegen schrieb ich auch, dass der Umgang mit Bewegungen, also Leuten, die nicht dafür bezahlt werden, einen anderen journalistischen Umgang erfordert. EIn bisschen mehr Zeit – vielleicht vorher -, gezielten Aufbau von Kontakten und Wissen darüber, wie herausgefunden werden kann, ob jemand bereit wäre, über das jeweilige Thema zu reden.

      Auf der anderen Seite finde ich genauso wichtig, dass sich Aktivist_innen Gedanken darüber machen, wie sie ihre Botschaft unter die Leute bringen und natürlich nicht alle Journalist_innen a) gleich und b) natürliche Feind_innen sind. Ganz im Gegenteil.

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  9. euch sollte schon bewußt, noch besser gewußt sein … das dieses video die 2.version im netz ist. das original -sprich die 1.version- zeigt ca. 2 min. am anfang mehr … da wo das aggressiv hyperaktive verhalten des mannes ersichtlich ist. auch die verball aggressive stimmung von außen ist im hintergrund zu hören.
    sicherlich hat das verhalten der beamten, kaum die definition, als deeskalierend, verdient … doch wie man in den wald reinruft – kommt es wieder raus,
    jetzt alle schuld der polizei zuzuschieben … ist einfach – doch ergibt kaum auflösung zum sachverhalt.

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