Verfassungsschutz abschaffen? Ja, aber…

Der Verfassungsschutz ist mit der Wahl und den Snowden-Leaks fast in Vergessenheit geraten. Vor knapp zwei Jahren begann die letzte Skandal-Serie des Verfassungsschutzes, die das Format gehabt hätte, die Regierung ins Wanken zu bringen. Die Kanzlerin hat es ausgesessen und inzwischen ist es fast vergessen. Zwischenzeitlich wurde in ausgesprochen respektablen Zeitungen und auch bei mehreren Parteien darüber nachgedacht, ob nicht besser wäre, den Verfassungsschutz aufzulösen.

Die Extremismus-Theorie hat auch durch diese Krise getragen und dann kam Prism. Der Verfassungsschutz ist mittlerweile besser ausgestattet als vorher.

Letzten Freitag haben mehrere Grundrechte-Organisationen dennoch mit einem Memorandum seine Auflösung gefordert. Die Begründung hat es in sich, und lohnt sich einerseits deswegen zu lesen, weil sie sich gut liest (hatte ich auch nicht erwartet) und weil die Argumente tatsächlich sehr hilfreich sind, wenn mal wieder wer sagt, dass es ohne Verfassungsschutz aber auch nicht geht, wer soll denn sonst die Extremisten im Auge behalten? Leider hat kaum jemand darüber berichtet. Es wäre wohl zuviel des Inhalts gewesen, so kurz vor der Wahl.

Das Memorandum wird unterstützt und herausgegeben von der Humanistischen Union, vereinigt mit der Gustav Heinemann-Initiative, der Internationale Liga für Menschenrechte und dem Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, geschrieben wurde es von Rolf Gössner, Johann-Albrecht Haupt, Udo Kauß, Till Müller-Heidelberg und Thomas von Zabern, mit Unterstützung vom AK Vorrat, dem CCC, digitalcourage e.V., Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie. Die Idee ist

..an die Politiker/innen aller Parteien (zu appellieren), nach den jüngsten Geheimdienst-Skandalen endlich durchgreifende rechtspolitische Konsequenzen zu ziehen.

Die Argumente finden sich in fünf Thesen:

  1. Eine demokratische Gesellschaft lebt von der Meinungsvielfalt. Radikale Auffassungen und Be- strebungen (die von den vorherrschenden Meinungsbildern abweichen) sind deshalb nicht nur zulässig, sondern auch wünschenswert – solange die Grenzen zur Strafbarkeit bzw. zu gewalttätigem Handeln nicht überschritten werden. Staatliche Behörden dürfen derartige Äußerungen weder als „verfassungsfeindliche“ oder „extremistische“ Bestrebungen abqualifizieren, beobachten oder gar verfolgen. Wir brauchen kein staatliches „Frühwarnsystem” zur Beobachtung derartiger Auffassungen und Bestrebungen.
  2. Geheimdienstlicher Verfassungsschutz ist schädlich, wie auch die zahlreichen Verfehlungen und Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik zeigen. Es handelt sich dabei nicht um zufällige, persönliche oder vermeidbare Fehler, sondern systematisch bedingte Mängel eines behördlichen und geheimdienstlichen „Verfassungsschutzes“.
  3. Die gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden sind überflüssig. Bei ihrem Wegfall entsteht keine Sicherheitslücke. Eine Aufgaben- und Befugnisüberleitung von den Verfassungs- schutzbehörden auf die Polizei ist daher nicht erforderlich. Der Schutz vor Gewalt und Straftaten obliegt der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten.
  4. Eine Kontrolle geheim arbeitender Verfassungsschutzbehörden, die rechtsstaatlichen und demokratischen Ansprüchen genügt, ist nicht möglich. Auch Kontrollverbesserungen sind untauglich: ein transparenter, voll kontrollierbarer Geheimdienst ist ein Widerspruch in sich.
  5. Die Verfassungsschutzbehörden sind ersatzlos abzuschaffen – allein schon deshalb, um nicht in Zeiten knapper Kassen und in Beachtung der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse jährlich eine halbe Milliarde Euro für überflüssige, ja schädliche Behörden auszugeben. Es bedarf auch keiner ersatzweisen, mit offenen Quellen arbeitenden staatlichen Informations- und Dokumentationsstelle über extremistische Bestrebungen. Das Problem besteht nicht in einem mangelnden Wissen über radikale, bisweilen auch menschenverachtende Meinungen und Haltungen in unserer Gesellschaft. Die Auseinandersetzung darüber muss mit politischen, demokratischen Mitteln geführt werden; sie ist innerhalb der Gesellschaft zu führen.

Auf der Website verfassung-schuetzen.de lässt sich nachlesen, wie die Thesen begründet werden.

Im Abschnitt Der „Verfassungsschutz“ ist schädlich zum Beispiel finden sich viele Skandale, über die ich in meinen „Zitronenfalter“-Talk beim letzten CCC-Congress über den Verfassungsschutz geredet habe. Aber auch andere, z.B. aus dem Jahr 1985:

Die Datenschützer stießen auch auf eine Kartei P2“. Sie enthielt 16 000 Personen, die nach Ansicht der „Verfassungsschützer“ „konspirativ tätig oder dessen verdächtigt” waren. In der Kartei wurden Persönlichkeitsmerkmale von observierten Personen erfasst, von H 10 bis H 73; H 71 stand zum Beispiel für Homosexuelle.

Im Teil Der „Verfassungsschutz“ ist entbehrlich kommen die Autoren zum Ergebnis:

Bei kritischer Durchsicht erweisen sich die gesetzlich zugewiesenen Aufgaben des „Verfassungsschutzes“ tatsächlich als überflüssig. Eine ersatzlose Streichung würde zu keiner Sicherheitslücke führen.

und erklären auch warum. Das Memorandum gibt es auch als gedruckten Band von 70 Seiten, der sich bei der Humanistischen Union bestellen lässt.

Auf der Website des Memorandums gibt es noch weitere Materialien zum Thema, bspw. einen Text dazu, wie es dazu kommt, dass die Mitgliedschaft in (legalen) kommunistischen Organisationen bei Migrant_innen schonmal dazu führt, dass die Staatsangehörigkeit verweigert wird.  Anschlagsrelevante Texte? beschreibt, dass das Schreiben kritischer Texte reicht, um sich für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu qualifizieren. Genau das übrigens führt in zahllosen Gesprächen, die ich in den letzten sechs Jahren geführt habe, regelmäßig zu Entsetzen.

»Man wird der Autorin des Aufsatzes nicht nachsagen können, für den Anschlag […] direkt verantwortlich zu sein. Strafrecht­lich ist ihr nichts vorzuwerfen, schließlich hat sie an keiner Stelle zur Gewalt aufgerufen.«

Pech ist dann bloß, wenn er an der falschen Stelle gefunden wird:

»Der […] am Tatort gefundene Artikel reiht sich ein in eine Serie ähnlicher Veröffentlichungen, die in ihrer Summe Gewaltbereitschaft fördern oder direkt hervorru­fen. Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert. «

Schön, dass unsere Verfassung die Meinungsfreiheit garantiert.

Wer den Aufruf unterzeichnen möchte, kann das hier tun.

Foto: greenoid via photopin, BY-SA-CC-Lizenz

3 Gedanken zu „Verfassungsschutz abschaffen? Ja, aber…

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