Allüberall auf den Tannenspitzen seh ich die Frage blitzen, wieso ausgerechnet dieser Protest – der gegen Stuttgart 21 – soviel Wirbel macht. Dabei ist das gar nicht besonders überraschend. Die einfache Formel Protest + Krawall = Presse ist hier um die Faktoren ‚friedlich‚ beim Protest und ‚Gewalt eindeutig durch die Polizei‚ beim Krawall erweitert.
In Berlin fand am Wochenende der Kongreß Öffentlichkeit und Demokratie statt. Bei der Abschlussdiskussion sagte Dieter Rucht, Forscher zu Sozialen Bewegungen am WZB, sinngemäß, dass man die Frage stellen müsse, warum Stuttgart 21 eine solche Bedeutung habe (etwa Min. 44 im Video). Neben anderen Faktoren spielten die Medien eine Rolle („Medienhype“). An den Protesten gegen Hartz IV beispielsweise hätten sich viel mehr Leute beteiligt. Anfangs sei darüber auch interessiert berichtet worden, aber nach etwa eineinhalb Monaten habe die Berichterstattung die Richtung gewechselt. Plötzlich stand überall, dass die Proteste nachließen. Faktisch wuchsen sie noch, haben die Forscher empirisch nachgewiesen. Obwohl viele Hunderttausend gegen Hartz IV auf die Straße gegangen sind, hat sich Rot-Grün keinen Millimeter bewegt.
Weil die Frage sicher gleich in den Kommentaren aufkommt: ich bin keine Freundin von Gewalt. Übrigens könnte ich hier auch gar nichts anderes sagen, denn eins der Probleme bei der ‚Diskussion der Gewaltfrage‘ ist ja eh, dass sich nur eine Seite unbefangen äußern kann, weil alle anderen mindestens mit interessierter Beobachtung durch die Behörden zu rechnen haben und nicht selten später mit Repressalien. Beobachtung habe ich schon garantiert, Repressalien indirekt auch schon ausreichend. Das macht eine ausgewogene Diskussion sowieso unmöglich. Glücklicherweise, sozusagen, bin ich in der bequemen Position, Gewalt unangenehm zu finden, was mir erlaubt, das hier aufzuschreiben. Ich hätte ganz harmoniesüchtig lieber, dass sich alles mit vernünftigen (meinetwegen auch unvernünftigen) Argumenten lösen ließe.
Das ändert aber nichts daran, dass Gewalt bei politischem Protest für Aufmerksamkeit sorgt, auch wenn das (fast) alle Beteiligten falsch finden. Medien funktionieren so, und auch das Web 2.0 funktioniert offensichtlich so. Der Hype ist der gleiche. Jahrelang haben MedienaktivistInnen versucht, dem etwa bei der Berichterstattung zu Gipfelprotesten entgegenzusteuern. Es gab lange strategische Überlegungen, wie dem sensationsgeilen Publikum (des Spiegels wie von Indymedia) die Inhalte der Proteste untergejubelt werden könnten, wenn die doch bloss an knallenden Dampfschwaden interessiert sind. Umsonst. Und was sonst will öffentlicher Protest bewirken als größtmögliche Aufmerksamkeit?
Nach dem G8-Gipfel in Genua 2001 gab es innerhalb von Attac Diskussionen über Gewalt. Attac ist frei vom Verdacht, (physische) Gewalt zu befürworten und hatte sich nach dem EU-Gipfel in Göteborg, bei dem mit scharfen Waffen auf Demonstrierende geschossen worden war, deutlich von der Anwendung von Gewalt (durch Demonstrierende) distanziert. Bekanntermaßen schützt das nicht vor staatlicher Gewalt. Uli Brand, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und mittlweile Politik-Professor in Wien, ist in Genua festgenommen und von der Polizei misshandelt worden – ein Erlebnis, dass er mit vielen teilt. Nach Genua veröffentlichte Thomas Fritz, Mitarbeiter von Blue 21 und darüber Teil des Attac-Netzwerks, den Text Militanz als Strategie (auch im ABC der Alternativen). Auch Thomas Fritz ist der Befürwortung sinnloser Gewalt sicher unverdächtig. Sein Argument war, dass erst die ‚Krawalle‘ der Gipfelproteste Attac die Bedeutung verliehen, die es damals bekam (und heute, abgeschwächt, noch hat):
Entgegen der häufig vorgebrachten Behauptung, die militanten Auseinandersetzungen am Rande der diversen Gipfel schadeten den politischen Zielen der globalisierungskritischen sozialen Bewegung, läßt sich empirisch für das deutsche ATTAC-Netzwerk festhalten, daß die Medien in der Bundesrepublik erst aufgrund der Krawalle ein großes Interesse an ATTAC entwickelt haben und die Darstellung jenseits der Regenbogenpresse relativ differenziert geworden ist und ansatzweise auch ATTAC-Forderungen transportiert werden.
Wenn ich also sage, dass die Gewalt der Polizei in Stuttgart der entscheidende Punkt ist, dann heißt das nicht, dass ich Gewalt notwendig finde, sondern ist vor allem eine Kritik daran, wie über politische Auseinandersetzungen berichtet wird und wie die Berichterstattung aufgenommen und weitergetragen wird.
mspro hat gerade aufgeschrieben, was offensichtlich ist:
(..) in Stuttgart ist die Gewalt nicht schlimmer als der ganz normale Wahnsinn in Berlin und in Hamburg, wie er jedes Jahr mehrfach stattfindet. Aber plötzlich wird von der Abschaffung der Demokratie gefaselt, als gäb es kein Halten mehr.
Das bedeutet – meine ich – nicht, dass die öffentliche Aufmerksamkeit zu Stuttgart 21 falsch wäre, im Gegenteil. Warum aber gibt es dieselben kritischen Fragen zum Verhalten der Polizei und zur Durchsetzung ‚demokratisch beschlossener Großprojekte‘ nicht auch bei anderen Protesten in diesem Ausmaß? Weil hier bürgerliche CDU-WählerInnen auf die Straße gehen und von ‚Sprühregen‚ der Wasserwerfer ins Krankenhaus geschossen werden. Haben es die anderen, die schon lange vorher wussten, dass es mit der Demokratie bei dem Bahnhof nicht weit her ist, mehr verdient?
Bedauerlicherweise sind die Qualistätsjournalisten immer schon mit anderen Agenturmeldungen beschäftigt, wenn sich herausstellt, dass doch niemand Steine warf, dass die Splitterbombe ein Chinaböller war oder der ‚Supermolly‚ anno 1990 in der Mainzer Straße vergorener Apfelsaft.Es hat unendlich viel Arbeit gekostet, etwa beim G8 2007 in Heiligendamm aufzuklären und in ‚den richtigen Medien‘ unterzubringen, dass die Clowns gar nicht mit Giftspritzen gegen die Polizei hantiert hatten.
Wem ist das vorzuwerfen – den verdummten Leuten? Den alten und neuen Medien, die von einem Hype zum nächsten hüpfen? Betrachtet dies als Plädoyer für Qualität statt (plus) Geschwindigkeit. Im Netz läuft ja nichts weg, und ob ich die Sensation heute oder morgen sensationell finde, ist mir egal.
Inzwischen ist zu erkennen, dass versucht wird, die Proteste zu diskreditieren. Das seien ja gar keine ’normalen Bürger‘, sondern die Rädelsführer seien (Links-)Extremisten. Und wenn dem so ist, dann ist der friedlichen Baumbesetzung ja wohl jede Legitimität entzogen. Gute Idee, nicht neu, aber funktioniert fast immer. Ich hoffe, dass die StuttgarterInnen zusammen- und durchhalten.
http://asatue.blogsport.de/2010/10/03/zum-schwarzen-donnerstag-in-stuttgart-baumfaellungen-waren-illegal/
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Die Zeit ist reif für den Protest.
Es haben sich die Bürger nun über viele Jahre Lug und Betrug durch die Politik gefallen gelassen, haben geschluckt und hingenommen aber nun ist so langsam das Maß voll und deshalb dieser Protest um Stuttgart 21.
Stuttgart 21 ist ein greifbares und nachvollziehbares Projekt für jedermann damit hat der brave Bürger kein Problem wenn er protestiert
eigentlich protestiert der braver Bürger gegen Ungerechtigkeit gegen Korruption und gegen Willkür durch die Obrigkeiten, dagegen dass man ihn schlicht übergeht und nicht mehr wahrnimmt in der Politik, das er außenvor bleibt und sich alles nur noch um globale Märkte um Banken und um Außenpolitik dreht aber eben nicht mehr um ihn den zahlenden Bürger.
Das ist der eigentliche Protest den aber der brave Bürger nicht so umsetzen kann also sucht man sich ein ungeliebtes Projekt und läßt seine Enttäuschung und Frust dort aus.
Es hätte genau so das Projekt am Nürburgring gewesen sein können oder irgendein anderes Projekt
die Zeit ist einfach überfällig für den Protest.
naja der unterschied dürfte sein, dass hier gegen etwas greifbares protestiert wird.
vorratsdatenspeicherung, §129a, harztIV etc. sind ja keine greifbaren streitpunkte im vergleich zu einem baum der gefällt werden soll. ich kann mich schlecht an meine ip-adresse ketten, staatsanwälte belagern oder vor behörden herumstehen, aber vor einen baum kann ich mich stellen… und s21 kann man verstehen ohne 2 semester verwaltungsrecht und widerspruchsverahren, ohne abgeschlossenes informatik-studium etc., dass heißt die selbstgefälligkeit die wir in sachen killerspiele, kinderpornos und raubkopien gesehen haben wird von sehr viel mehr leuten durchblickt und wahrgenommen.
und zu guter letzt ist der gegner auch nicht anonym und austauschbar, sondern eine eingebildete alt-herren-riege, die sich gegenseitig an arroganz und machtbewusstsein zu überbieten versucht…
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Ein sehr schöner Artikel. Mir stellt sich bei solchen Sachen immer die Frage: Wer ist für diese Medien und deren Konsum verantwortlich? Sind Medien geil auf Neuigkeiten von Natur aus? Oder wollen Bürger einfach nach ein paar Tagen nicht mehr wissen, was in Stuttgart oder anders wo los ist? Ein Mentalitätswandel? Das würde allerdings bedeuten, dass viele Dinge, gegen die protestiert werden kann und wird, nach kurzer Zeit medial belanglos werden und dadurch natürlich auch die Angst und das Interesse von PolitikerInnen abnimmt, es kommt ja schließlich nicht mehr im TV. Das zeichnet ein trauriges Bild von der Gesellschaft, könnten also auch die Medien ’schuld‘ sein? Das wäre natürlich super, schließlich hätte man Buhmänner und -frauen. Ist meiner Meinung nach aber zu einfach. Medien werden ja genauso wie andere Dinge auch ‚konsumiert‘. Was gekauft/geschaut/gehört wird, wird produziert, gesendet, gedruckt. Also doch die Menschen „an sich“? Gewalt ‚hilft‘ zwar ins Fernsehen und auf die Titelblätter, allerdings nicht der Protestbewegung. Ohne Gewalt wird vielleicht in der Lokalrubrik berichtet. Zwickmühle?
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