Online-Tristesse

Flickr, by Madison Guy CC-Lizenz

Online-Journalismus ist eine schwierige Sache. Dabei könnte es so einfach sein: Mehr Kollaboration, mehr Inhalt, weniger Langeweile. Internet eben, kommt von „vernetzen“.

Geht natürlich nicht so einfach. Es muss Geld verdient werden, und weil das so ist, schießen sich die so genannten Qualitätsmedien lieber ins Knie statt was Gutes draus zu machen. Nein, selbstverständlich habe ich keine Patentlösung für’s Geldverdienen, ich bin aber auch keine Betriebswirtschaftlerin.

Alan Rusbridger, Chefredakteur des Guardian, hat die Frage, wie das mit dem Geld denn gehen soll, in Berlin vor zwei Jahren sehr souverän beantwortet. Sinngemäß hat er freundlich lächelnd erklärt, dass er als Chefredakteur Journalist sei und die Aufgabe habe, guten Journalismus zu machen. Für’s Geldverdienen seien andere zuständig. Einer der wenigen deutschen Chefredakteure, die was vom Netz verstehen, Wolfgang Blau, wechselt jetzt zum Guardian. Das spricht für sich und hinterlässt in der deutschen Medienlandschaft eine Lücke.

Die Lösung liegt irgendwo zwischen anderen Vergütungsmodellen und der Nutzung des Internets für besseren Online-Journalismus. Und das heißt eben nicht, dass Print besonders schön bunt ins Netz geschubst wird, sondern dass das Potential des Internets an sich genutzt wird.

Die deutsche Online-Presselandschaft tastet sich vorwärts wie im Nebel. Beraten von Horden von Klickzahl-Steigerungs-Schlaumeiern, gefangen in unverrückbaren Vorstellungen von „Qualitätsjournalismus“. (Qualitätsjournalismus ist keine Ironie, das ist völlig ernstgemeint.)

Alle für sich, sich zu Tode konkurrierend. Qualitätsjournalismus ist dann, aus Agenturmeldungen eigene zu machen. Der Journalismus besteht in dem Fall aus dem Anpassen des Vorgekauten an den Stil des jeweiligen Hauses, das Ziel ist, zuerst fertig zu sein. Ergebnis: meine Timeline wird im Minutentakt von der gleichen Nachricht, aber von den verschiedensten Medien beglückt.

Ich brauche diese Agenturmeldungen nicht. Twitter ist sowieso schneller. (Oder Google-News, aber das ist dann ja bald vorbei, wenn die Zeitungen auf die Verlinkungen von dort selbstmörderisch arrogant verzichten. Vielleicht auch aus Verzweiflung und Ignoranz, ich bin mir nicht sicher).

Dazwischen Bilderstrecken zur Steigerung der Klickzahlen, weil so die Werbung gezählt wird. Irgendwann wird rauskommen, dass Online-Werbung eine auf keiner Realität basierenden Luftblase ist, bei der sich alle Teilnehmenden wie Poker-Spieler gegenübersitzen und wichtig tun.

Warum wird die Zeit und das Können der sicherlich höchstqualifizierten AbsolventInnen diverser Journalistenschulen nicht dafür eingesetzt, gute Geschichten zu schreiben?

Es ist einfach nicht nötig, dieselbe Geschichte auf zig Websites zu spiegeln. Wir lesen nicht nur eine News-Website. Das Internet macht es möglich, relativ schnell von einer zu anderen zu springen, und das sogar, wenn keine direkten Links gesetzt sind.

 

Links zur Konkurrenz

Immerhin, neuerdings wird vorstellbar, Links zur Konkurrenz zu setzen. Nach ca. 10-15 Jahren, in denen die Nutzung des Internets für konventionelle Medien an Bedeutung zunimmt. Hurra.

Wer hat das Märchen erzählt, der Wald des Internets sei so erschreckend, dass die Menschen immer auf einer Website blieben, solange ihnen niemand den Weg woandershin zeigt? Dieser Glaube ist immer noch weit verbreitet, aber wenn ich den Wolf mal enttarnen darf: es stimmt nicht. Ich weiß nicht, ob die Leute, die das erzählen, selbst gelegentlich im Netz sind.

Das funktioniert so: ich habe ein paar Websites, deren RSS-Feeds ich mehr oder weniger regelmäßig durchgucke. News-Websites sind nur sehr wenige dabei. Nachrichten erfahre ich über Twitter oder andere Social Media und so bewege ich mich von einer Seite zur anderen, relativ schnell wechselnd. Und wenn mir eine Seite gut gefällt, komme ich wieder. Oft landet sie in meinem Feedreader. Andere Menschen machen das anders, aber das zugrundeliegende Muster bleibt: wenn etwas gut ist, kommen sie zurück.

Es ist wie im wirklichen Leben (das kann gar nicht oft genug gesagt werden): wenn mir ein Restaurant gefällt, gehe ich öfter dort essen.

Nochmal zurück zu den überall gleichen Themen: das ist furchtbar. Ja, sicher spielt Geschwindigkeit bei Nachrichten eine Rolle. Aber wie gesagt: wer aus welchem Vorstand zurückgetreten ist, wissen wir schon, das stand schon bei Twitter. Was fehlt, sind die Geschichten dahinter und drum herum.

Was fehlt, sind gut recherchierte Geschichten, mit Leuten, die etwas Neues zum Thema zu sagen haben. JournalistInnen wollen sie gern schreiben, wir wollen sie gern lesen. Und nicht über die ewig gleichen drei Themen oder die stetig wachsenden ‚Vermischtes‘ ‚Panorama‘-Rubriken.

Stattdessen müssen arme Figuren morgens um 4 Nachtschichten schieben, um noch mehr Aktualität zu simulieren. Wer braucht denn einen „Ticker“, der eine Debatte der Präsidentschaftskandidaten kommentiert? Wenn mich das interessiert, kann ich es mir selber angucken. Seit einer Weile wird uns simuliert, dass die Präsidentschaftswahlen so wichtig sind, als fänden sie hier statt. Selbst die Kindernachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Logo berichten darüber.

Ich glaube nicht, dass das viele mehr interessiert als etwa, warum der Berliner Bausumpf das Flughafendesaster produziert. Und zwar nicht nur das das so ist und alle ganz erschüttert sind, sondern warum und was dahinter steckt.

 

Investigativer Journalismus, wäre das nicht schön?

Mal wieder investigativ wäre gut, aber erstmal kriegen wir simuliertes Tempo in Form von „Live-Tickern“.

Die sind schnell, wir können gefühlt live dabei sein, und die ReporterInnen sind auch ganz nah am Geschehen.

[4.31 Uhr] Beide Kandidaten wenden sich nun direkt an die Wähler. Sie verweisen auf die Unterschiede in ihren politischen Programmen. Romney wirbt um die Unentschlossenen und sagt, er wisse, wie er mit dem politischen Gegner, … … … (spiegel.de, 23.10., +++ Minutenprotokoll +++)

Wozu ist ein Live-Ticker nötig? Er könnte einigermaßen zeitnah darstellen, was sich irgendwo abspielt, für das sich Leute in eben dieser Geschwindigkeit interessieren. Ich finde die meisten dieser Ticker unglaublich schlecht. Das hat auch damit zu tun, dass ich vor gut 10 Jahren schon an der Entwicklung solcher Online-Tickermeldungen beteiligt war und allerhand Energie und Herzblut darauf verwendet habe, eine System zu entwickeln, wie sowas sowohl schnell als auch mit hohem Informationswert stattfinden kann. Mich interessiert nämlich weder als Ticker, was ich selber online angucken kann (Spiegel Online, siehe oben), noch – in der taz gern verwendet – atmosphärische Beschreibungen im Stil „Neben der Demonstration wird Currywurst verkauft.“

Interessant wären Tickermeldungen zum Beispiel aus laufenden politischen Verhandlungen. Das können nicht alle: dazu ist nötig zu wissen, was am Verhandlungstisch passiert und interessant wird es erst, wenn jemand politisch so kommentiert, dass Interessen und Hintergründe verständlich werden. Und nicht erst am Tag danach, sondern während es passiert.

1999 ging die erste interaktive Nachrichten-Plattform online: Indymedia. Das ist jetzt ziemlich genau 13 Jahre her. Ein Jahr später gab es die ersten Meldungen in diesem Ticker-Stil, berichtet wurde von den Protesten gegen den IWF- und Weltbank-Gipfel in Prag. Indymedia entstand als Medium der Anti-Globalisierungsbewegung, als Kritik an der einseitigen Berichterstattung über Proteste und auch, weil in Australien das erste Content Management System entwickelt worden war, mit dem es möglich war, Internetseiten kollaborativ und mit wenig Vorwissen zu erstellen. Das gab es vorher nicht. Indymedia war die erste Website überhaupt, die das Kommentieren von Nachrichten ermöglichte und als sinnvollen Beitrag zur Content-Produktion betrachtete. Im Rückblick sehe ich das kritischer, aber es war definitiv ein großer Schritt für die Menschheit. Indymedia Deutschland trennt übrigens seit Jahren Kommentare in ‚inhaltlich sinnvolle Ergänzugen zum Text‘ (oben) und ‚alles andere‘ (hellere Schrift, unten). Warum diese Idee niemand kopiert, habe ich bis heute nicht verstanden.

Ticker wurden nicht von wenigen gemacht. Sie waren der Versuch, möglichst umfangreich und zeitnah von etwas zu berichten, in der Regel über Proteste gegen Globalisierungsgipfel oder ähnliche Großereignisse, aber auch vieles andere, das mit Sozialen Bewegungen zu tun hat und in den <hust> Qualitätsmedien nur erwähnt wird, wenn es eine ordentliche Randale gibt, um gleich darauf die RandaliererInnen zu disqualifizieren. Dabei haben die bloß gut verstanden, wie Medien funktionieren.

Das war möglich, weil viele unterwegs waren und deswegen viele Beobachtungen mit einspeisten. Es gab ein komplexes System der Überprüfung der einlaufenden Meldungen und ein Ergebnis, dass den LeserInnen ermöglichte, sich ein halbwegs umfassendes Bild der Situation zu machen. Sie wurden fast gleichzeitig in mehrere Sprachen übersetzt. Es gab ein riesiges Interesse an diesen Tickern, was sicher auch mit Sensationsgier zu tun hat, aber nicht nur. Ich habe selber über Jahre erlebt, dass die KorrespondentInnen der „echten Medien“ irgendwann die Segel strichen und anriefen, um mitzukriegen, was los war.

Logisch, die waren jeweils allein oder zu zweit, hatten wenig Kontakt zu denen, die die Proteste koordinierten und damit wenig Chancen, sich ein reales Bild von dem zu machen, was geschah. Würden diese JournalistInnen der unterschiedlichsten Medien zusammenarbeiten, wäre das möglich. Aus vielen einzelnen Puzzle-Steinen lässt sich etwas herstellen, das besser über das informiert, was passiert ist. So wie es bis heute ist – 10 Jahre später -, schreiben lauter QualitätsjournalistInnen über ihre individuellen Eindrücke, gespickt mit ein paar Kommentaren mehr oder wenig zufällig Herumstehender. Im Nachbarblatt klingt das ganz anders, kein Wunder, zwei Straßenecken weiter war es ja auch ganz ruhig. Oder, noch schlimmer, sie lassen sich bei der Pressekonferenz der Polizei diktieren, was geschah. Dass das nicht die ganze Wahrheit ist, könnten sie wissen.

Nun ist die Anti-Globalisierungsbewegung Geschichte, „Live-Ticker“ gibt es seit ein paar Jahren auch auf den meisten News-Websites. Leider haben sie nur einen Teil übernommen: die Darstellungsform (+++ 18:29 Der Sack Reis fiel um +++). Auf der Strecke geblieben ist, was das Internet sonst noch zu bieten hat: Kollaboration und Teilen. Wissen teilen, um etwas Besseres zu produzieren.

 

It’s the end of the world as we know it

Wenn aber nicht alle das Gleiche machen (müssten), gäbe es Raum, etwas Neues zu machen. Seit Jahren nerven die Agenturmeldungen und ich wünsche mir schon länger Online-Journalismus, der – gern unterstützt von Technik – Meldungen an einer Stelle aggregiert und den JournalistInnen, die das ja schließlich gelernt haben, den Raum lässt, gute Geschichten zu schreiben oder – hold your breath – investigativ zu arbeiten. Geschwindigkeit ist nicht wichtig. Das kann das Internet selber, dafür braucht niemand eine Ausbildung. Was fehlt, ist Recherche, Hintergrund, Fachwissen.

Eine Utopie. Und dann lernte ich letzte Woche Géraldine Delacroix kennen, die mir leise und unaufgeregt von einer News-Website erzählte, bei der sie arbeitet, die genau das macht. Gegründet von JournalistInnen von vor allem Le Monde und Libération, finanziert durch LeserInnen (9€/Monat), frei von Werbung gibt es dort investigativen Journalismus: Mediapart.

Die Zeitungen gehen ein, die News-Websites strampeln und klammern sich an altbekannte Strohhalme. Die Zeitungskonzerne, die Alpha-Journalisten, die alberne Konkurrenz zwischen Print und Online, nicht zuletzt die Tradition spielen sicher eine Rolle. Weil es aber nicht mehr so werden wird, wie es war, wäre vernünftig, sich aufs Internet einzulassen in seinem gesamten Potential, statt es nur als weiteren Kanal zu betrachten, über den gesendet werden muss. Das funktioniert nämlich nicht. Und diese Erkenntnis ist nicht wirklich frisch.

 

 

Protest digital

http://images.zeit.de/bilder/titelseiten_zeit/2012/icon_010_001.jpgNächstes Wochenende rede ich bei der Tagung der Urbanauten „Revolution im Zwischenraum“ über Digitalen Protest. Konkret über „Urbaner Protest im öffentlichen Raum in Zeiten der digitalisierten Stadt von 2012 bis 2048„. Mit Piraten, Guttenberg und ACTA wieder sehr en vogue (und das ist ja auch gut so).

Aus diesem Anlaß befragte mich jetzt.de (Süddeutsche). Normalerweise würde ich das hier verlinken, weil aber die Website von jetzt.de die interessante Macke hat, dass anstelle des Artikels gern „Fehler: Das Dokument wurde nicht gefunden“ erscheint, erlaube ich mir, meine (redaktionell aufgepeppten) Worte auch hier vollständig wiederzugeben:

„Die Menschen wollen sich nicht abspeisen lassen“

Plagiatsjagd, Anti-ACTA-Kampagnen, Occupy – das Netz hat das Zeug dazu, die politische Kultur grundsätzlich zu verändern. Anne Roth ist seit 2001 als Aktivistin im Netz unterwegs und hat diesen Wandel beobachtet.

Die Berlinerin Anne Roth ist Politikwissenschaftlerin, Mutter, Bloggerin. „Netz- und Medienaktivistin“, wie sie selbst sagt. 2001 hat sie den deutschen Ableger des globalisierungskritischen Nachrichtenportals Indymedia mitbegründet – die erste Seite in Deutschland, auf der jeder Nutzer Inhalte im Netz veröffentlichen und andere Beiträge kommentieren konnte. Kommende Woche spricht sie auf dem Kongress „Revolution im Zwischenraum in der evangelischen Akademie Tutzing. Vorab ein Gespräch über den Verdruss an der Politik und Chancen für Politiker.

jetzt.de: Das Internet ist zweifellos eine technologische Revolution. Kann es auch politische Revolutionen auslösen?
Anne Roth: Damit aus einer politischen Bewegung eine Revolution werden kann, sind andere Dinge nötig als das Internet. Deswegen würde ich den Arabischen Frühling auch nie als Facebook- oder Twitter-Revolution bezeichnen. Aber seit Guttenberg und spätestens seit den Anti-Acta-Protesten ist klar: Im Netz sind nicht nur Menschen unterwegs, die irgendwie vor sich hinwursteln, sondern dort kann politischer Aktivismus eine Kraft entfalten, die stark genug ist, die ganz reale Politik zu verändern. Mittlerweile erkennen auch immer mehr Politiker, dass sie die Entwicklungen im Internet nicht versäumen dürfen, wenn sie weiter Politiker bleiben wollen.

Welche Entwicklungen sind das?
Transparenz und Partizipation werden immer wichtiger. Die Menschen wollen sich nicht mehr mit fadenscheinigen Erklärungen abspeisen lassen. Vor ein paar Jahren zum Beispiel wäre Karl-Theodor zu Guttenberg mit seiner Plagiatsaffäre noch durchgekommen. Doch so haben ihn die Leute durch ihr eigenes Engagement zu Fall gebracht. Daran zeigt sich: Die Menschen sind nicht von der Politik verdrossen, sondern von ihrer Form. Auch deswegen haben die Piraten so einen großen Erfolg. Da bricht sich ein breites Bedürfnis nach Teilhabe und Transparenz Bahn.

Macht es das Netz also politischen Parteien und Bewegungen leichter, Menschen zu begeistern?
Klar erlauben „neue Informations- und Kommunikationstechnologien“ – wie es altmodisch heißt – einerseits, sehr viele Menschen zu informieren, ohne auf die herkömmlichen Medien angewiesen zu sein: durch Posts, Mailinglisten oder Twitter. Andererseits können sich Gruppen so viel leichter organisieren und untereinander kommunizieren. Aber natürlich müssen sich die Menschen, die informiert werden sollen, auch interessieren. Um den Protest aus dem Netz auf die Straße zu bringen, braucht es eine ganz reale Unzufriedenheit.

Die Stadt Schwäbisch Gmünd hat nach einer riesigen Aktion im Netz ihr Schwimmbad nach Bud Spencer benannt. Fehlt Kampagnen im Netz manchmal der nötige politische Ernst?
Ich finde es gut, wenn politischer Protest auch spaßig und dabei souverän ist. Auf einer Freiheit-statt-Angst-Demo in Berlin zum Beispiel hatte jemand ein Banner dabei, auf dem stand „Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen“. Ein ironischer, witziger Unterton muss einer Sache nicht schaden.

Vor elf Jahren haben Sie Indymedia Deutschland mit ins Leben gerufen, ein globalisierungskritisches Nachrichtenportal, bei dem sich jeder beteiligen kann. Das war damals schon ziemlich revolutionär, oder?
Web 2.0 existierte nicht, wer im Internet veröffentlichen wollte, musste schon html beherrschen. Mit Indymedia wollten wir Kritik üben, an politischen Inhalten und an den etablierten Medien. Wir haben die mediale Begleitung der gleichzeitig entstehenden Anti-Globalisierungsbewegung, die gerade entstand, lieber selbst in die Hand genommen und damit zu ihrer weltweiten Vernetzung beigetragen. Es gab ein Formular, über das jeder posten und kommentieren konnte, das war total neu. Die Skepsis am Anfang war gewaltig.

Wer waren Ihre Kritiker?
Die kamen aus dem gesamten politischen Spektrum, und aus den Medien: Wie, da kann jeder schreiben? Das war ja völlig neu. Es war großartig, bei diesem Projekt dabei zu sein – aber auch sehr anstrengend. Wir haben intern viel diskutiert.

Worüber denn?
Wo ist die Grenze, wenn sich die Nutzer unter einem Post gegenseitig beschimpfen? Wie wird die Transparenz gewahrt bleiben, wenn die Kommentare unübersichtlich werden? Gibt es Dinge, die man gar nicht auf der Seite haben will? Was ist das Ziel von Kommunikation? Das sind Diskussionen, die immer noch wichtig sind und immer noch geführt werden. Ich frage mich, ob zum Beispiel ein Livestream von jeder Piraten-Parteiversammlung wirklich für Transparenz sorgt, oder nicht eher denen die Teilnahme erschwert, die nicht die Zeit haben, sich das alles anzugucken.

Für die meisten von uns ist das Web 2.0 Alltag, wir verbringen viel Zeit auf Twitter oder Facebook. Dahinter stehen riesige Konzerne mit sehr großer Macht. Ist das die richtige Infrastruktur für politischen Protest?
Nein. Auf diese Problematik müssen wir immer wieder hinweisen und Alternativen aufzeigen. Aber ohne diese Netzwerke geht es auch nicht. Bei einer politischen Kampagne will ich ja nicht nur ein paar Leute erreichen, sondern alle. Und alle sind nun mal bei Facebook. Auf Art und Zweck der Kommunikation kommt es an. So sollte sich ein Betriebsrat besser bei Diaspora oder einem anderen Netzwerk organisieren, das großen Wert auf Datenschutz legt. Die Ergebnisse seiner Arbeit kann er dann aber über Facebook verbreiten. Das ist kein Widerspruch.

Sind wir ausreichend dafür gerüstet, uns politisch im Internet zu betätigen?
Wir brauchen alle noch viel mehr Medienkompetenz. Vor allem natürlich die, für die das Internet nicht selbstverständlicher Teil ihres Alltags ist. Alle müssen bereit sein, sich mit neuen Formen von Politik und Mediennutzung auseinanderzusetzen. Und wir brauchen einen bewussteren Umgang mit Informationen über uns und andere. Welches Netzwerk nutze ich wofür und mit wem? Vor allem in den Schulen muss da noch sehr viel passieren. Für viele Lehrer ist das Internet nach wie vor unbekanntes Terrain. Das ist aber auch teilweise ein Generationenproblem; in den nächsten 20 Jahren wird da sehr viel passieren.

(Lena Jakat)

Indymedia: Britische Polizei postet undercover Falschinformationen

Indymedia Sheffield veröffentlichte gestern einen Artikel, der beschreibt, dass die britische Polizei noch weit mehr tut, als sexuelle Kontakte zu AktivistInnen zu pflegen und an Treffen und Demonstrationen teilzunehmen – dass das stattfindet, überrascht niemand in politischen Bewegungen wirklich. Nicht allgemein bekannt war bisher, dass mindestens seit August 2008 Artikel und Kommentare auf Indymedia-Websites von Rechnern gepostet werden, die den Sicherheitsbehörden zugeordnet werden können.

Update: Inzwischen wurde eine Liste sämtlicher Kommentare veröffentlicht, die von Rechnern mit den entsprechenden IP-Nummern gepostet wurden

Die wöchentlich erscheinen AktivistInnen-Flugschrift Schnews hat Freitag Details veröffentlicht: Einzelne Indymedia-Gruppen, deren Server normalerweise keine IP-Adressen speichern, machen bei destruktiven Kommentaren Ausnahmen, um deren IPs filtern zu können. Dabei fiel u.a. die IP 62.25.109.196 auf, die zum Server gateway303.energis.gsi.gov.uk gehört. GSI steht für Government Secure Intranet, ein Netzwerk der britischen Regierung, zu dem auch das Netzwerk der britischen Polizei Zugang hat. Das GSI-Netzwerk dient u.a. dazu, ein sicheres Proxy-Netzwerk zu bieten, das seinen NutzerInnen Anonymität garantiert.

In Kommentare bei Indymedia, die von den GSI-IPs gepostet wurden, wurden private Informationen über AktivistInnen veröffentlicht, politische Kampagnen angegriffen und zum Stören friedlicher Proteste aufgerufen. Es gab Kommentare zu laufenden Gerichtsverfahren, Angriffe gegen bekannte politische AktivistInnen oder Informationen, die nur der Polizei bekannt waren. Zwei Postings – vom 21. Januar und 9. Juni 2010 – enthalten Kontaktinformationen potentieller Ziele der Tierrechtsbewegung: eines Pelzladens in Leeds und eines Tierzirkusbesitzers.

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Intelligentes zu Wikileaks

Nachdem sinn- und aussichtslos wäre, sowas wie einen Überblick zum Thema Wikileaks herstellen zu wollen, weise ich einfach mal auf ein paar Sachen hin, die angenehm intelligent aus der Masse herausstechen. Zufallsfunde, keine gezielte Recherche.

Im Deutschlandfunk gab es am Donnerstag einen Kommentar von Peter Welchering, der gegen den Strom schwamm und nicht danach fragte, inwiefern die Veröffentlichungen durch Wikileaks eine Gefahr darstellen. Für ihn stellt viel eher das Vorgehen gegen Wikileaks den Auftakt zur Abschaffung des Rechtsstaats dar.

Ein ganz anderes Thema sind die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange. Ich finde es ekelhaft, darüber zu spekulieren, was sich in schwedischen Schlafzimmern abgespielt hat. U.a., weil wir es sowieso nicht rausfinden werden, aber auch, weil es mit Wikileaks nichts zu tun hat. Weit interessanter ist die Frage, warum in diesem einen Fall eine Interpol-Fahdung hochgefahren wird, die es zu Sexualstraftaten sonst nicht gibt. Obwohl ja schön wäre, wenn das jetzt Standard würde. Die taz hat dazu passend gerade das Protokoll einer Vergewaltigung.

Antje Schrupp hat die Hysterie um angeblich geplatzte Kondome und das schwedische Verhältnis zu Vergewaltigungen genauer angeguckt: Julian Assange, Schweden und wildgewordene Feministinnen.

Das Forum Personal Democracy hat gestern das Symposium about Wikileaks and Internet Freedom (PDFLeaks) aus dem Boden gestampft, mit einer Besetzung, die einiges hermacht. Auf dem ersten Podium saßen Mark Pesce, Esther Dyson, Jeff Jarvis, Rebecca MacKinnon, Jay Rosen, Carne Ross, Douglas Rushkoff, Katrin Verclas and Gideon Lichfield, Moderation Micah Sifry. Podium Nr. 2 mit Arianna Huffington, Charles Ferguson, Andrew Keen, Zeynep Tufekci, Tom Watson, Dave Winer, and Emily Bell, moderiert von Andrew Rasiej (alle Videos).
Googlet die Leute, wenn Ihr wissen wollt, welche Sahneschnittchen das sind und abonniert ihre Tweets.

Nebenbei: ich würde mir auch hier wünschen, dass bei Veranstaltungen von dem Kaliber so selbstverständlich kompetente Frauen dabei sind, und zwar mehr als eine. Esther Dyson wurde anmoderiert als „the godmother of the internet“. Na, wer hatte den Namen schonmal gehört?

Panel 2

Ein Twitter-Kommentar, der mir gut gefiel, als die Diskussion ein bisschen abglitt:

Die Cyber-Gewaltdebatte, ob nämlich DDoS-Attacken die digitale Form des legitimen zivilen Ungehorsams ist oder im Gegenteil eine undemokratische Einschränkung des Rechts auf Redefreiheit bzw. wahlweise des freien Netzes ist, findet weiter statt. Wer’s mag:

Und für die historisch Interessierten: A brief history of politically motivated denial of service attacks: (pdf) (vom Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence (CCD COE), einer NATO-Institution)

Ein weiterer interessanter Aspekt, der auch in vielen Tweets zur PDFLeaks-Veranstaltung angesprochen wurde, ist die Frage danach, warum Wikileaks bestimmten Printmedien die Auswahl überlässt, was und wie tatsächlich veröffentlicht wird. Mit dem Resultat, dass der Fokus auf Europa und Nordamerika liegt.

Der erste Text, den ich dazu las: Malte Daniljuk: Der Wikileaks-Flop (amerika21.de)

Last but not least alte vs. neue Medien im Gespräch zwischen Hans Leyendecker und Philip Banse über Wikileaks, kurz bei DRadio Kultur und lang bei Philip Banse

Und ganz zum Schluss noch was, was die Medienaktivistin in mir besonders goutiert:
Chris Anderson: From Indymedia to Wikileaks: What a decade of hacking journalistic culture says about the future of news